Hundstag aus sieben Sachen

Guten Tag,

auch dieser Beitrag ist ursprünglich für die Schreibgruppe der evangelischen Blindenseelsorge im Rheinland geschrieben worden.

In den sieben Sachen gehört der Text in die Kategorie Tierisches.

Ich wünsche Euch gute Unterhaltung.

HUNDSTAG

Geschrieben im Sommer 2012 für die Schreibgruppe der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge im Rheinland zum Thema Ein- und Umzug.

Man fühlt sich einfach hundeelend an diesen Hundstagen. Seit vorgestern liegt ein Gewitter in der Luft. Es kommt aber nicht. Und bei dieser Affenhitze kommt man als Hund deshalb wirklich auf den Hund, will heißen, dass Hund auf sich allein gestellt ist und auf verlorenem Posten steht, weil die Menschen, um die der Hund sich zu kümmern hat, die Bullenhitze auch nicht besser vertragen als wir Hunde.
Sie sind gereizt und unkonzentriert und spätestens am Mittag scheint ihr viel gelobter Menschenverstand durch die Sonne verdampft zu sein, in der sie sich freiwillig rösten lassen.
Der heutige Tag war so richtig für die Katz. Das fing schon vor dem Aufstehen mit diesem Alptraum an. Mir träumte, ein dicker, lauter und stinkender Mann wäre mit einem Hund und zwei Katzen bei uns eingezogen. Als ich aufwachte, schimpfte ich mit mir selbst: „Emma, du bist doch kein hysterischer Kleinkläffer, sondern ein gestandener Rottweiler. Und dass Lena und Carmen noch mindestens einen Mitbewohner suchen, ist doch eigentlich eine gute Sache.“

Doch dieser ekelhafte Gestank des Mannes und der beiden Katzen gingen mir einfach nicht mehr aus dem Sinn. Woher kannte ich nur diesen scheußlichen Geruch? Trotzdem nickte ich noch einmal ein. Kurze Zeit später hörte ich Lena die Treppe herunterkommen und stand natürlich mit der falschen Pfote zuerst auf. Lena fand, dass ich nicht schnell genug an der Terrassentür war. „Emma, wo bleibst du denn? Jetzt aber ‚raus mit dir, hopp.“
Als ich gerade draußen war, machte Lena hinter mir die Tür zu. Und das ist eine von diesen isolierten Türen. So konnte ich nicht hören, was meine Frauchen drinnen besprachen. Da stand ich nun und merkte, dass mehr in der Luft lag als dieses Gewitter.
„Menschenskinder, ich passe wirklich gern auf euch auf. Aber wie soll ich das anständig tun, wenn ich nicht weiß, was abgeht?“
Also durchstreifte ich gewissenhaft witternd und aufmerksam lauschend erst einmal den Garten. Es war alles beim Alten und noch in Ordnung. Es war schon so warm, dass ich beim Gartenteich angekommen die unbändige Lust verspürte, ein kühles Bad zu nehmen. Doch ich darf nicht in den Gartenteich. Lena meint: „Das ärgert und stört die Fische.“ Mich stören verschlossene Türen, die Hund beim besten Willen nicht öffnen kann. Und diese blöde Terrassentür war so was von zu.
Schließlich machte mir mein Frauchen Carmen die Tür wieder auf. Doch es war klar, dass mir nichts anderes übrig bleiben würde, als den Vormittag im einigermaßen

kühlen Flur herumzulungern. Meine Frauchen arbeiten zwar Zuhause, aber ich kann Carmen nicht bei ihrer Übersetzungsarbeit und Lena nicht bei ihren Telefonberatungen helfen.
Gegen Mittag kam Lena die Treppe herunter, nahm meine Leine vom Haken und klinkte sie in meinem Halsband ein.
Aber wir machten keinen Spaziergang, sondern einen Einkauf. Die Einkaufstour war allerdings sehr aufschlussreich, wie es heute weitergehen sollte. Wir gingen zum Supermarkt, wo Lena Obst, Gemüse und Milchprodukte kaufte.
Danach ging Lena in die Metzgerei. Als sie herauskam, roch es aus ihrer Tasche köstlich nach Koteletts, Würstchen und Bauchfleisch. Das konnte nur bedeuten, dass heute Besuch zum Grillen kommen sollte. Ich mag Grillen eigentlich nicht. Der Feuergestank geht mir auf den Geist. Doch zumindest gibt es normalerweise für mich eine gute Portion ungewürztes Fleisch, oft sogar mit einem Knochen.

Auch in der Bäckerei kaufte Lena ein. Sie nahm von dort nicht nur Brot, sondern auch Kuchen mit. Also würde der Besuch schon zum Kaffeetrinken kommen. Endlich Zuhause angekommen, musste ich eine derbe Enttäuschung hinnehmen. Lena würzte das Fleisch, legte es in eine Marinade ein und verstaute es im Kühlschrank. Doch diesmal ließ sie nicht ein einziges Häppchen ungewürzt und schnitt nicht einmal einen kleinen Knöchen für mich ab. Was mochte das für ein Besuch sein, der Menschen dazu trieb, ohne Not den

gerechten Anteil für den treuen Rottweiler zu vergessen? Und wieder musste ich an den scheußlichen Kerl in meinem Alptraum denken. Ich bin ein wachsames, aber auch gastfreundliches Haustier. Doch als die Kühlschranktür vor dem Fleisch, von dem ich nichts abbekommen sollte, von Lena zugemacht wurde, erreichte meine Lust, diesen Besuch zu empfangen, ihren absoluten Nullpunkt.
Dann hieß es wieder warten. Doch endlich kam Carmen die Treppe herunter. Sie kochte Kaffee und deckte den Tisch. Als sie die Thermoskanne mit dem Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, ging sie noch einmal nach oben, um sich frisch zu machen. Jetzt konnte es wirklich nicht mehr lange dauern, bis der Besuch kommen sollte. Ich ging witternd und mit gespitzten Ohren im Flur auf und ab. Schließlich hielt ein Auto vor dem Hoftor und zwei Männer stiegen aus.
Gemeinsam kamen die beiden auf die Haustür zu. Der Eine verabschiedete sich von dem Anderen und ging zum Auto zurück. Der Andere, der wie der Kerl in meinem Alptraum stank, wartete noch, bis der Erste nicht mehr zu hören war, tastete dann nach dem Klingelknopf, wie es auch Carmen tut, weil sie blind ist. Dann wartete er noch ein bisschen. Doch genau in dem Augenblick, als er Sturmklingeln wollte, um uns alle zu erschrecken, schlug ich kräftig an. Wenn Einer mir so kommen will, muss er mehr auf Zack sein. Weil er mich hatte ärgern wollen und mir gewaltig stank, bekam dieser Wichtigtuer selbstverständlich nicht meinen freundlichsten Begrüßungston zu hören. Ich ließ ein
74 Knurren im Ansatz, gefolgt von einem lauten Bellen und einen grollenden Ausklang hören. Der Kerl erschreckte sich zwar und zögerte, aber er fand schnell seine Gelassenheit wieder und setzte zu seinem geplanten Sturmklingeln an.
„Emma, aus!“, brüllte Lena, als sie und Carmen gemeinsam die Treppe herunter kamen. Dieser gemeine, keifende Unterton hätte wirklich nicht sein müssen, obwohl ich gerade ungeheure Lust verspürte, bei meinem Drohen noch einen Zahn zuzulegen, aus tiefster Brust zu knurren und die Lefzen hörbar hochzuziehen. Gehorsam, wie ich nun einmal bin, stellte ich meinen Protest gegen diesen ekelhaften Typen sofort ein und verzog mich unter den Wohnzimmertisch. Dort wartete ich auf die Menschen. Ich konnte nicht abhauen. Schließlich musste ich ja herausfinden, ob sich mein Alptraum bewahrheiten würde. Bei Menschen weiß man nie, was sie so anstellen.

Eine Zeit lang unterhielten sich die Menschen im Flur. Als ich die Stimme des Mannes hörte, fiel mir plötzlich ein, woher ich ihn kannte. Ich erinnerte mich mit Schaudern daran, dass er einmal mit Carmen ausgegangen war, als ich noch ein Welpe gewesen war. Es war damals ein sehr langer Abend in einer Kneipe in der Innenstadt geworden. Er hatte viel auf Carmens Kosten getrunken. Und er hatte geredet und geredet. — Wen er kennt, was er weiß, wie schön er ist, wie klug er ist.‘.. — Er heißt übrigens Horst.
Er ließ sich von Lena ins Wohnzimmer führen und setzte sich auf das Sofa. Leider hatte er mich wohl
gehört, weil ich mich nicht absolut still verhalten kann. Ich bin ja noch nicht tot. Er beugte sich zu mir herunter, tätschelte meine linke Seite und begann, auf mich einzureden.
„Wie schön, dass wir uns wiedersehen. Braver Hund, Emma.“

Carmen und Lena kamen mit dem Kuchen ins Wohnzimmer und setzten sich Horst gegenüber an den Tisch. Das passte ihm nicht. Und ich erinnerte mich daran, dass er damals in der Kneipe allzu gern mit Carmen auf Tuchfühlung gegangen war. Ich spürte heute Nachmittag, wie sehr er sich über die Distanz zu seinen Artgenossinnen ärgerte, genauso wie er sich damals über Carmens vorsichtigen Rückzug auf die andere Seite des Tisches geärgert hatte.
Er tätschelte wieder und wieder meine Seite. Dann begann er wieder auf mich einzureden: „Na, Emma, wie geht es uns bei dieser Hitze denn so, Dicke?“
Lena war so dumm, auf dieses Gerede zu reagieren, indem sie sagte: „Ja, das ist so eine Sache bei dieser Art von Hunden. Ich denke auch oft, dass die Emma zu dick und schwerfällig ist.“
Doch Carmen sagte das, was ich dachte: „Das, was die Emma auf ihren kräftigen Knochen hat, ist reines Muskelfleisch. Wovon sollte sie auch zu dick sein? Sie trainiert fleißig im Hundeverein und ist auch sonst nicht faul.“
Endlich ließ er von mir ab. Das Thema war fürs Erste erledigt. Doch er redete und redete.

Beim Kaffeetrinken langten Horst und Lena kräftig zu. Und sie hing förmlich an seinen Lippen. Was die an diesem „Stinkstiefel“, wie Menschen so sagen, findet? Schließlich kam er zum Grund seines Besuches und erzählte, dass er für sich und seine Haustiere eine neue Bleibe suchte. Nach dem Auszug seiner Freundin kann er sich die Miete für die Wohnung, in der er gerade lebt, nicht mehr leisten. Und natürlich zeigten meine Frauchen ihm nach dem Kaffeetrinken das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden. Carmen tat es aus Gutmütigkeit und verhielt sich sehr zurückhaltend. Lena tat es aus wachsender Begeisterung für diesen Kerl. Sie wurden sich handelseinig und stießen beim Grillen auf die neue Hausgemeinschaft an. Er wird also mit seinen beiden Katzen und seinem Blindenführhund in zwei Wochen bei uns einziehen.

Kaum war das geklärt, begann er wieder ohne Unterlass zu reden. — Wen er kennt, was er weiß, wie schön er ist, wie klug er ist… Er unterbrach sich selbst nur kurz, um zu trinken. Er redete auch mit halb vollem Mund weiter. Er ist das, was Menschen einen Schaumschläger oder Dünnbrettbohrer nennen. Ich meine:
„Er ist ein Luftbeißer und Wasserschnapper.“

Wenn er doch wenigstens seine Hündin mitgebracht hätte. Dann hätten wir einander schon einmal beschnuppern und ein Gespräch von Hündin zu Hündin über die neue Hausgemeinschaft und die gemeinsame Zukunft führen können. Aber was konnte man von so einem schon erwarten?
Es war bereits dunkel, als sena und ich Horst zur Bushaltestelle begleiteten. Auf dem Rückweg begann Lena mit mir zu schimpfen: „Was ist los mit Dir, alte Miesepeterin? Du hast ja zu überhaupt nichts mehr Lust, faules Stück.“
Und ich dachte so bei mir: „Ich bin nicht faul. Und da gibt es einige Sachen, auf die ich richtig Lust habe, ein kühles Bad im hauseigenen Gartenteich, ungewürztes Fleisch, vielleicht sogar mit einem Knochen und eine unkomplizierte Hausgemeinschaft mit Leuten und Tieren, die nicht stinken.“

Liebe Grüße

Paula Grimm

Hildes Todesfall (Frauengeschichten sieben Sachen)

Auch die zweite Geschichte in der Kategorie Frauengeschichten in den sieben Sachen handelt von einem Todesfall, aber auch von Freundschaft.

Ursprünglich wurde diese Geschichte für die Schreibgruppe der evangelischen Blindenseelsorge im Rheinland im November 2003 verfasst.

HILDES TODESFALL

„Die Hilde ist plötzlich aufgestanden und auf eine junge Frau zugegangen. Die stand mit Freunden ziemlich nah bei den U-Bahngleisen. Die jungen Leute stritten darüber, was sie mit dem Freitagabend anfangen sollten. Die Hilde hat die junge Frau gegrüßt. Jedenfalls nehme ich das an. Verstehen konnte ich nichts. Sie machten gerade wieder eine Durchsage. – Doch, die Hilde hat sie gegrüßt, schüchtern, wie wir das machen, wenn wir Leute treffen, die wir von früher kennen. Die junge Frau hat auch etwas gesagt. Und eine Bewegung mit dem Arm hat sie gemacht. Die Hilde wankte, fiel ins Nichts, während die Linie 12 einfuhr. Und plötzlich fielen die Geräusche ineinander, wurden zu einem einzigen mächtigen Geräusch. Da macht man die Augen zu oder guckt weg, weil das Geräusch mit einem Mal so mächtig, übermächtig, ist, dass man erst mal mehr als genug hat.“

„Fiel ins Nichts, so ein Quatsch! Halt dein versoffenes Maul Alte!“ Inge antwortete nicht auf die Beschimpfung des jungen Mannes. Er war wie die anderen jungen Leute instinktiv zurückgewichen und stand jetzt unmittelbar neben Inge, die immer noch auf der Bank saß, auf der sie bis vor wenigen Sekunden, bis vor einer halben Ewigkeit, mit Hilde gesessen hatte.

Sie sah nicht zu den Gleisen hinüber. Sie wusste, dass es dort nichts zu sehen gab, was sie verstehen konnte. Sie betrachtete die jungen Leute. Der junge Mann, der sie beschimpft hatte, war seiner Haltung nach der unumstrittene Anführer. „Also hat der bloß eine dicke Lippe riskiert, weil die Anderen es von ihm erwartet haben, vorsichtshalber sozusagen!“ dachte Inge. Es war das typische Cliquenverhalten. Aber waren sie nicht alle doch schon ein bisschen zu alt für eine typische Clique? Hilde wusste aber, dass man sich immer so leicht verschätzte, weil die Meisten immer anders wirkten und sein wollten, als sie waren. Alle waren sorgfältig zurecht gemacht. Inge konnte sich nicht daran erinnern, jemals so aufgetakelt gewesen zu sein, obwohl sie auch bessere Zeiten erlebt hatte als diese, wesentlich bessere Zeiten. Dieser junge Mann und seine Freunde mussten nicht wissen, warum Inge mit sich selbst geredet hatte. Sie wollte doch nur begreifen, was passiert war, und was vorging. Für den Anfang musste dazu wohl eine einfache logische Kette genügen. „Fremde Leute beschimpfen, aber die ganze Zeit nur auf die Armbanduhr starren. – Dich meinen und dich doch nicht meinen, so ein feiger Hund!“

Leute von der Feuerwehr, dem technischen Hilfswerk und der Polizei trafen ein. „Guten Abend! Die Station muss geräumt werden, wenn Sie bitte so freundlich wären, uns n oben zu begleiten, damit wir Ihre Personalien aufnehmen können, und Sie uns freundlicherweise erklären können, was Sie gesehen haben!“, sagte eine junge Polizeibeamtin zu ihnen. Und Inge rappelte sich auf. Gerade das Aufstehen war für Inge seit einiger Zeit doch sehr beschwerlich. Aber einmal in Gang gekommen, wurde es zumindest etwas leichter. „Warum sollen wir mitkommen? Wir haben mit dieser, äh, Sache nichts zu tun!“ beschwerte sich der Anführer stellvertretend für alle Cliquenmitglieder. Die Beamtin würdigte er zwar eines Blickes, war aber ansonsten nicht freundlicher als zu Inge. „Wir wollen nur Ihre Zeugenaussagen aufnehmen!“ erklärte die Polizistin ruhig. Und die jungen Leute folgten den Beamten, wenn auch widerwillig zur Rolltreppe, die ins Zwischengeschoss der U-Bahnstation fuhr.

Inge bildete das Schlusslicht.

Als sich Inge auf die Rolltreppe stellte, musste sie an etwas denken, dass Hilde gesagt hatte: „Es ist ganz egal, wann man mit der Rolltreppe fährt, die Luft, die von der Klimaanlage hier ‚runtergeschubst wird, beißt immer. Ob sie warm oder kalt, feucht oder trocken ist, sie beißt, weil sie einfach nicht nach unten will.“ Und Hilde und Inge waren die Letzten, die ihr das verübelten, obwohl oder gerade, weil sie selbst, sich die meiste Zeit, fast freiwillig, unten aufhielten. In das Mittelgeschoss trauten sie sich häufiger. Denn dort gab es mehrere Imbissbuden und Bäckereien. Manchmal war Hilde aber auch allein auf Beutezug gegangen. Denn sie hatte ein sehr gutes Auge für Leute, die etwas übrig ließen. Und sie konnte unauffällig und geduldig wie eine Katze, die auf Beute lauert, warten, bis etwas für sie abfiel.Nach oben, auf den Markt, gingen sie nur, wenn sie unten vertrieben wurden, was inzwischen nicht mehr ganz so häufig vorkam, wie noch vor ein paar Monaten. Oben hatten andere ihr Revier. Und deshalb ging Inge auch an diesem Abend nur zögernd auf die Rolltreppe, die ganz nach oben führte. – Ganz nach oben?

Auf dem Markt angekommen, führten die Beamten die Gruppe zu einem Polizeiwagen. Inge blieb etwas abseits stehen und wartete darauf, von den Polizisten irgendwann befragt zu werden. Sie stand im Licht einer Straßenlaterne. Die Lampe spendete ein orangefarbenes Licht. Es regnete. Inge war froh darüber, nicht unter einer Laterne mit weißgrünlichem Licht zu stehen. In diesem Licht hätte sie wie eine Wasserleiche ausgesehen. Inge erinnerte sich plötzlich daran, wie es gewesen war, als sie noch eine eigene Wohnung in einem Mietshaus gehabt hatte, und wie es ausgesehen hatte, aus einem höheren Stockwerk bei Regenwetter auf diese orangefarbenen Lampen zu sehen. Von da oben hatte es ausgesehen, als wäre es kein Regen, sondern fließendes Gold, was sich auf die Straße ergoss. „So weit nach oben, dass ich das noch mal sehen kann,komme ich wohl nicht mehr. Und so allein, ohne die Hilde, bin ich inzwischen auch ein zu großer Angsthase, um so weit oben und so normal zu sein. Aber war die Hilde überhaupt jemals so weit oben gewesen, um nachts von oben auf die Orangefarbenen Laternen und den Regen gucken zu können?“

Wahrscheinlich hatte Hilde diesen Anblick nicht gekannt. Denn Hilde kam ursprünglich aus dem Umland der Großstadt, wo alles kleiner und weniger glanzvoll gewesen war. Diese eher ländliche Umgebung hatte Hilde gefallen. Sie hatte häufiger davon gesprochen, zum Beispiel von den Gärten. Aber von der Familie, die sie gehabt hatte, und die zerbrochen war, hatte sie dagegen kaum etwas erzählt. Hilde hatte einen Mann gehabt und zwei Kinder. Die Kinder waren inzwischen erwachsen. Die beiden hießen Niels und Nina und kamen, wie Hilde gemeint hatte, Gott sei Dank auf ihren Vater. „Hilde, erinnerst du dich noch an das Gespräch von den beiden jungen Frauen, die auf die Vier warteten und sich gefragt haben,warum man so oft nicht zu anderen Menschen durchkommt, warum man so oft nicht verstanden wird. Und wie die Eine zu der Anderen sagte dass jeder Mensch eben eine eigene, ganz andere Welt ist. Und dann kam ihre Bahn und du hast gesagt: „Wenn das stimmt, dann ist jeder hier unten eine eigene, ganz andere Unterwelt.“ Und recht hast du gehabt. Und weil das stimmt, musstest du weder mir, noch sonst jemandem alles von deiner buckligen Verwandtschaft erzählen.“

Es dauerte seine Zeit, bis die Beamten, die sich von der Ungeduld der jungen Leute nicht aus der Ruhe bringen ließen, die Personalien und Zeugenaussagen aufgenommen hatten. Die jungen Leute bekamen Termine, zu denen sie sich auf dem Präsidium melden sollten. Und als das vorbei war, standen sie plötzlich alle da, scharrten mit den Füßen, sahen sich in der Gegend um blickten auf ihre Uhren, beschäftigten sich mit dem Inhalt ihrer Taschen oder mit ihrer Aufmachung und konnten auf die Schnelle, an die sie normalerweise gut gewöhnt waren, ihre Unternehmungslust nicht wieder finden.

Die junge Beamtin kam mit ihrem Kollegen auf Inge zu. Und Inge kam das Gesicht der jungen Frau immer bekannter vor. Schließlich mussten sich die Beamten im Bereich der U-Bahnstation gut auskennen, denn hier gab es für sie häufiger etwas zu tun. So kannten sie auch Hilde und Inge, zumindest den Namen nach, und deshalb war Inge keineswegs verwundert, dass die Beamtin zu ihr sagte: „Guten Abend, Inge!“ „Guten Abend! Wissen sie vielleicht, ob die Hilde noch lebt?“ „Die Leute vom technischen Hilfswerk und der Feuerwehr sind noch da unten beschäftigt, aber sie wissen schon, dass die Hilde tot ist. Du hast sie doch gut gekannt, die Hilde!“ „Lieber Gott mach‘, dass die Hilde jetzt so weit unten ist, dass sie nicht noch weiter nach unten fallen muss. Und sei ihrer Seele gnädig!“ Später konnte Inge beim besten Willen nicht mehr sagen, ob sie das Gebet vor sich hingesprochen hatte oder nicht. Aber sie kam damit immerhin dazu, sich so weit zu sammeln, um mit der Beamtin weiter sprechen zu können. „Ja, wir waren seit einem Jahr befreundet. und so lange kannte ich sie auch, na, jedenfalls so ungefähr. Ich weiß aber nicht, wie die Hilde weiter hieß. Bei uns verliert man den Nachnamen zuerst. Ich weiß nur, weil sie das irgendwann wahrscheinlich ausversehen gesagt hat, dass sie nicht so hieß wie der Mann, den sie mal gehabt hat.“ „Und was ist eben passiert?“

„Die Hilde ist plötzlich aufgestanden und auf eine junge Frau zugegangen. Die stand mit Freunden ziemlich nah bei den U-Bahngleisen. Die jungen Leute stritten darüber, was sie mit diesem Freitagabend anfangen sollten. Die Hilde hat die junge Frau gegrüßt. Jedenfalls nehme ich das an. Verstehen konnte ich nichts. Sie machten gerade wieder eine Durchsage. – Doch die Hilde hat sie gegrüßt, schüchtern, wie wir das machen, wenn wir Leute treffen, die wir von früher kennen. Die junge Frau hat auch etwas gesagt. Und eine Bewegung mit dem Arm hat sie gemacht. Die Hilde wankte, fiel ins Nichts, während die Linie 12 einfuhr.“

„Hat die junge Frau sie gestoßen? Ist sie verantwortlich für den Sturz?“ Die Fragen waren naheliegend und berechtigt. Das spürte Inge sofort. Aber das half nicht bei der Beantwortung der fragen. Schließlich fand Inge in ihrem Wortschatz Begriffe für Antworten, Die zumindest einigermaßen taugten. „Ein Gericht wird in dieser Sache nichts finden können, um herauszufinden, wer oder was Schuld ist, nehme ich an. Aber Schuld gibt es wohl schon, alte Schuld, Ungerechtigkeit, die neu geworden ist, durch die Verleumdung und die Abweisung, die Hilde erfahren hat. Die beiden hätten auch viel weiter voneinander weg stehen können. Verleumdung und Abweisung machten den Arm lang genug für eine Berührung, die die Hilde einfach ins Wanken bringen musste, zu Fall bringen musste. Die Hilde war überhaupt nicht unberührbar, im Gegenteil.“ Inge behielt diese Worte genau im Gedächtnis und wunderte sich später darüber, so etwas gesagt zu haben. Sie traute ihren Ohren nicht, als sie sich die Zeit nahm, das Gesagte vor sich zu wiederholen. andererseits konnte sie nichts Falsches darin finden.

„Du sagtest, dass du den Eindruck gehabt hättest, dass sie einander kannten.“ „Ich bin mir sicher, dass sie sich kannten.“ Und ich werde es Ihnen beweisen.“ Langsam, so schnell wie es ihr möglich war, drehte sich Inge um. „Du kannst nicht einfach auf sie zeigen. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute!“ dachte Inge. Außerdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass ihr Arm viel zu kurz war für eine so weite Geste, selbst wenn sie sie für die Beamten mit einigen Worten angeschoben oder verstärkt hätte. Also ging Inge mit ihren kleinen, unsicheren Schritten auf die junge Frau zu. Einen Augenblick lang sah sie ihr unschlüssig ins Gesicht. Sie überlegte, ob sie ihr die Hand geben sollte. Aber sie war zu schüchtern für diese Handgreiflichkeit, wagte es nicht einmal, die Hand leicht auszustrecken. Doch sie brachte wenigstens den Mut auf, sie direkt anzusprechen und ihrem Blick standzuhalten. „Guten Abend, Nina! Herzliches Beileid zum Tod ihrer Mutter!“

Die junge Frau reagierte nicht. Doch das war Reaktion und Antwort genug.

© Paula Grimm, 18. Feb 2023

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud (Frauengeschichten aus sieben Sachen)

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Der Sommer setzte die Lebenden nicht mit flirrender Hitze unter Druck. Der Himmel hielt sich bedeckt. Es regnete nicht. Sanft wehte der Wind.

„Guten Tag, Daggi!“ „Herzliches Beileid auch dir,
daggi!“ „Wie geht es dir sonst so, Daggi?“ „Hallo, bald hätte ich dich übersehen, Daggi!“

Und Daggi, wie es aus aller Munde kam, hatte wie eh und je diesen falschen, verniedlichenden Klang. Es waren viele Leute zu begrüßen, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen und vor allem Hände zu schütteln. Da das seine Zeit brauchte und sehr eintönig vor sich ging, gelang es den ganz alten Erinnerungen wie den Gerüchen von Haferschleim, den die Großmutter früher jeden Morgen für den Vater gekocht hatte, und dem Zitrusspülmittel aus der Vergangenheit und den Tiefen des Gedächtnisses aufzutauchen und so stark zu werden, dass sie die aktuellen In-Düfte der Parfüms, Deos und Aftershaves überlagerten und diese nach einiger Zeit sogar ganz zu verdrängen. Und plötzlich war auch wieder die Stimme der Großmutter zu hören, die wie zu ihren Lebzeiten in jenem Singsangdialekt von weiter rheinaufwärts sprach: „Jib dat schöne Händische, Daggi!“ Und wie eh und je klang sie dabei jammernd und schimpfend zugleich. Dieser und ähnliche Sätze in diesem Zungenschlag waren seit dreißig Jahren hier und in ihrer Familie verstummt. Doch da sie in früheren Zeiten so oft erklungen waren, mussten sie einfach ohne Sinn und Verstand in der Familie bleiben, bis der oder die Letzte, dem sie zu Lebzeiten zu Ohren gekommen waren, gestorben sein würde. Aber so oft die die Hinterbliebenen von der alten Frau Befehle erteilt worden waren, so oft sie geklagt, verurteilt und geprahlt hatte, Konnte oder wollte jemand aus der Familie diese jammernde Schimpferei imitieren.

Jeder bekam von Dagmar die rechte Hand und natürlich auch einen Gruß und einen Dank in der hiesigen leicht rauen Sprachweise. Ihre Rechte war wie die Linke und wie die Füße klein geraten und die Rechte war wieder einmal durch Macken an den Nagelbetten und einen Riss an der Daumenwurzel nicht das schöne Händchen.
„Wenigstens muss erst mal nicht gewinkt werden. Dabei verpasse ich wahrscheinlich immer noch den Einsatz, weil ein Abschiedswort noch lange kein Abschiedsblick und keine Kehrtwende zum Gehen ist, Blinde Kuh!“, dachte Dagmar.

„Es geht los, Daggi!“, sagte Martha, die Älteste von den fünf Kindern, die Gertrud geboren hatte. „Also bei ihr einhaken!“, gedacht, nichts gesagt und einfach getan, was jetzt angesagt war.

Der Weg zu dem Teil des Friedhofs, wo die anonymen Gräber waren, war, wie man so sagt, ein gutes Stück Weg. „Und gehen hilft immer irgendwie!“, bemerkte Dagmar still, während sich Martha auf dem Weg zum Grab gedämpft mit Leuten unterhielt, die vor und hinter ihnen gingen. Und deshalb musste sie auf dem Weg nicht Daggi zu ihr sagen. So war es leicht, den eigenen Gedanken nachzugehen. – „Gehen hilft immer irgendwie! – Gertrud war wie Martha die Älteste zuhause. – Zuhause in Ostpreußen, zuhause an der Bahnstrecke, wo dann irgendwann abends und nachts nicht mehr nur Güterzüge und Viehtransporte nach Osten rollten. – Zuhause, wo dann irgendwann auf den Güter- und Viehwagons Menschen nach Osten abgeschoben wurden. Und die Dunkelheit, durch die die Züge mit den Menschen in den Wagons gefahren waren, verhüllte die Tötungsabsichten und die Morde nicht, sodass Gertrud sie später genau erkannte. – Zuhause, wo dann später mit Menschen überladene Züge nach Westen fuhren. – Zuhause, von wo sich Gertrud ohne den Vater mit den Großeltern, der Mutter und den jüngeren Geschwistern zu Fuß in den ungewissen Westen hatte aufmachen müssen. Und die beiden Kleinen, Oskar und Renate waren auf der Strecke geblieben. – Gertrud war die Einzige gewesen, die nicht Daggi, sondern Dagmar zu gesagt hatte. – Voller Stolz, weil sie sich im diesem Fall einmal gegen ihren Mann und ihre Schwiegermutter durchgesetzt hatte. Anders als es bei den Namen der vier Geschwister gewesen war. So hieß Martha wie eine Jugendfreundin des Vaters. Martha empfand es als Zurückweisung so zu heißen wie jemand, die im Alter von zweiundzwanzig Jahren tödlich mit dem Auto verunglückt war. Und Martha empfand es mit Mitte vierzig immer noch unpassend, ja sogar unverschämt, dass Dagmar, Dagmar also taghell, hieß. Sie sagte immer wieder: „Es ist absurd, jemanden taghell zu nennen, die im dunkelsten Winter geboren ist, und die nie gesehen hat und nie sehen wird, was taghell ist.“
„Und selbst, wenn das stimmt, gibt es doch keinen triftigen Grund dafür der Namensgeberin und auch der Trägerin dieses Namens den Klang des Namens wegzunehmen und lebenslänglich mit diesem falschen und verniedlichenden Ton Daggi zu sagen!“, dachte Dagmar dann jedes Mal.

Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Gertruds Urne beigesetzt werden sollte. Der Mandatar wartete bis alle Trauergäste sich in einem großen Halbkreis um das offene Urnengrab versammelt hatten. Dabei ließ sich ein Augenblick der Stille und des Stillstands nicht vermeiden. Und wenn Dagmar geistesgegenwärtig genug gewesen wäre und mit dem schönen Händchen, mit dem Linken, das von Herzen kommt, in die Luft gegriffen hätte, hätte sie wohl ein großes stück von dem nur scheinbar so kleinen Glück aufgeschnappt, dass die Natur einfachen, bodenständigen Leuten wie Gertrud schenkt, Leuten, die das Herz am rechten Fleck haben. So blieb Dagmar nur die Zeit festzustellen, dass Gertrud ihren Platz für die ewige Ruhe richtig gewählt hatte. Es war ein Ort mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte Orte in ihrem garten so geschaffen wie dieser Platz, an dem sie bestattet werden würde, waren, Orte mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte es verstanden. Wer nicht einfach heimisch sein darf, wo er ist, der muss sich heimisch machen. Aber, wer solche Plätze schafft, schafft keine vollkommen heile Welt. Dazu sind diese Plätze zu bescheiden und zu leicht zu zerstören. Und um Orte zu schaffen, an denen man sich wenigstens heimisch fühlt, muss man zu oft, zu viel und zu hart arbeiten, als dass ein Stückchen heile Welt entstehen könnte.

Der Trauerredner hielt eine kurze Ansprache. Und dann folgte zumindest das Vaterunser. Das Vaterunser war auch an diesem Platz und an diesem Ort gut und einfach, wie es immer ist und wie das Gehen. Es hilft immer. In seiner Einfachheit, Klarheit und Ungereimtheit war es Gertruds Leben und damit jetzt auch ihrem Tod näher und angemessener als jedes Lied. Denn die Worte dieses Gebets sind so gesetzt, dass man sie wie bei jedem Gang rhythmisch so gestalten kann, wie es gerade angemessen ist. Auf die Länge und die rituelle Struktur einer katholischen Messe war verzichtet worden, auch um falsche Gefühligkeit von Vornherein auszuschließen. Was mit falscher Gefühligkeit auch immer gemeint sein mochte. Und es stimmte, Gertrud war keine Kirchgängerin gewesen. Sie war in den Garten gegangen so lange sie konnte. Und ihren Garten hatte sie mit Kopf, Herz und Hand gepflegt und war damit bodenständig genug, um Herz und Seele nach oben und ganz weit offen zu haben. Und damit gehörte sie in einem ganz und gar umkonfessionellen zu den gläubigen Menschen. und sie hatte gebetet.

Und was konnte auf dieses einfache und dennoch großartige Gebet folgen? Jeder Trauergast ging zum Urnengrab. In den letzten Tagen war viel und laut über die Gertruds Beerdigung gesprochen worden. Und weil alle sich bemüht hatten, so schnell und so laut als möglich mitzureden, waren viele falsche Worte gemacht worden. Und sie alle hingen jetzt plötzlich nach dem Vaterunser in der Sommerluft. Und die Tränen, die Dagmar jetzt vergoss, konnten sie nicht wegspülen.

Jeder ging allein an das Grab, auch wenn sie zu zweit an das Erdloch traten wie Martha und Dagmar. Dagmar stand da und dieses Loch in der Erde fühlte sich an wie eine Wunde.

Plötzlich wurde Dagmar gewahr, dass neben ihr ein Korb mit Blütenblättern stand. Und links neben diesem Korb, also an der Herzseite war das Urnengrab. Auf die Blütenblätter und dieses Loch war Dagmar nicht vorbereitet gewesen. Denn darüber war in der Zeit nach Gertruds Tot kein einziges Wort gesprochen worden.

Dagmar erinnerte sich daran, wie sie vor fast dreißig Jahren auf diesem Friedhof aber an ganz anderer Stelle für die Großmutter väterlicherseits einen Kranz in ein größeres Grab geworfen hatte.

Und Gertrud hatte sich ihr anonymes Urnengrab auch deshalb gewünscht, um nicht neben ihrer Schwiegermutter in das Doppelgrab gelegt zu werden, dass ihr Mann gekauft hatte. Es war wohl dieser erfolgreiche Widerstand gegen den Willen der alten Frau und ihren Sohn gewesen, der vor nicht einmal einer halben Stunde mitverantwortlich dafür gewesen war, dass die Worte der Großmutter und der Gerüche von früher auf den Plan gerufen worden waren. Was waren schon ungefähr dreißig Jahre und ungefähr 200 M Luftlinie im Vergleich zu ausgewachsenem Starrsinn und einer riesigen Portion Bosheit?

„Was ist jetzt zu tun? – Hier geht es nicht um das schöne Händchen. – Wie viele Blütenblätter müssen es sein? – Achtundachtzig!“, dachte Dagmar. „Mensch Daggi, was machst du denn da? Du hältst den ganzen Verkehr auf!“, zischte Martha ungeduldig. Martha war oft ungeduldig aber so ungeduldig?

Nicht „Nicht die Sonne bringt es an den Tag sondern die Weite!“, dachte Dagmar. „ich zähle doch nur die angemessene Zahl der Blütenblätter für Gertrud ab!“ „Die angemessene Zahl für Gertrud?“ „Ja, für Gertrud, di mit dem Schwert Vertraute. So hieß sie doch!“ „Aber, warum sagst du Gertrud zu ihr, Daggi?“ Sie war unsere Mutter!“ „Ja! Das war sie auch! Aber das war sie nicht nur!“ „Wie viele von den Blütenblättern meinst du denn zu brauchen?“ „Die fünfundsiebzig für gelebte und erlebte Jahre habe ich schon! Also sind die Zeit der vielen Arbeit, die Zeiten des Kummers, die Zeiten der Sehnsüchte, Die Zeit der Vertreibung, die Zeiten der Krankheiten, die Zeiten der Schwangerschaften und Geburten, die Zeit der Pflege und so schon bedacht!“ „Und was kommt jetzt noch?“

Diese spitze Frage nahm Dagmar erst abends, als sie in ihrem Bett lag, ganz deutlich wahr. Was sie am Urnengrab aber in Echtzeit spürte, war Marthas immer noch wachsende Ungeduld. Sie hätte Dagmar gern stehen gelassen. Aber das traute sie sich nicht. Wenn sich Martha wenigstens mit den anderen Trauergästen hätte verbünden können. Aber die warteten geduldig in gebührendem abstand, nicht nur, weil sie Dagmars Tränen sahen. Zumindest die meisten spürten wohl auch, dass alles seinen angemessenen Gang für Gertrud und Dagmar ging. Und alles ging so gut wie möglich.

„Fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr, eins als Trostpflaster für jeden Kummer, eins zum Trost für unerfüllte Sehnsüchte, eins für unerfüllte Liebe, eins für jede erlittene Ungerechtigkeit, eins als Lohn für jede Plackerei, eins für jede vergebliche Mühe, eins für jeden erlittenen Schmerz und für jede Krankheit. Und der Dank darf nicht fehlen, eins für jedes gute Wort, eins für die Zuverlässigkeit, eins für jede geübte Nachsicht, eins für die Liebe, die immer von Herzen kam, auch wenn sie immer nur eine praktische Gestalt angenommen hatte, eins für die Mühe um Gerechtigkeit und eins für die Bemühung um Verständnis, was oft nicht gelang was aber zu deinen Lebzeiten nie aufhörte.“

© Paula Grimm, 09. November 2023

Sieben Sachen im Zeichen des Regenbogens

Guten Tag und herzlich willkommen bei den sieben Sachen von Paula Grimm,

in den nächsten Tagen lade ich sieben kurze Prosatexte in diesen Blog. Die Sieben sind die ältesten Sachen, die ich geschrieben habe, die nicht dem Reißwolf oder der Löschung anheim gefallen sind, nachdem ich nach über drei Jahrzehnten des Schreibens beschlossen hatte, das Schreiben „errnsthaft zu betreiben“.

Es sind sieben Sachen, die durch sieben unterschiedliche Impulse entstanden sind.

Die Sieben ist für mich keine „böse“ Zahl, obwohl es die sieben Totsünden und die sieben mageren Jahre gibt. Denn andererseits gibt es in der Bibel auch die sieben fetten Jahre. Und für viele ist die Sieben die Zahl der Fülle.

Zudem sind da ja auch noch die sieben Farben des Regenbogens. Und die habe ich, obwohl von mir persönlich ungesehen, zum Leitbild der Geschichtensammlung, sieben Sachen, gemacht.

Die Zeichnung des Regenbogens, die das Cover für die Geschichten ist, stammt übrigens von Mira Alexander. Ich sag ihr an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank dafür.

Obwohl jeder Text seinen eigenen Schreibanlass hat, gibt es drei Hauptkategorien, in die sie gegliedert sind.

1. Frauengeschichten (Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud und Hildes Todesfall)
2. Skuriles (Cucurbitus Rex und schmackhafte Vorsätze)
3. Tierisches (Hundstag, Negritas Brief und Elsa und Mimmi)

Hier im Blog werde ich die Geschichten thematisch geordnet einstellen, und zwar beginnend mit den beiden Frauengeschichten. Dnach folgen die skurilen Sachen. Das Schlusslicht bilden die tierischen Texte.

Vorsicht! – Auch in einigen Texten dieser Sammlung darf ein Schuss Magie nicht fehlen. So geht es eben zu bei der Paula.

Ich wünsche Euch viel Vergnügen und gute Unterhaltung mit den Sieben Sachen und freue mich auf Fragen und Kritik von Euch!

Liebe Grüße

Paula Grimm