Hundstag aus sieben Sachen

Guten Tag,

auch dieser Beitrag ist ursprünglich für die Schreibgruppe der evangelischen Blindenseelsorge im Rheinland geschrieben worden.

In den sieben Sachen gehört der Text in die Kategorie Tierisches.

Ich wünsche Euch gute Unterhaltung.

HUNDSTAG

Geschrieben im Sommer 2012 für die Schreibgruppe der evangelischen Blinden- und Sehbehindertenseelsorge im Rheinland zum Thema Ein- und Umzug.

Man fühlt sich einfach hundeelend an diesen Hundstagen. Seit vorgestern liegt ein Gewitter in der Luft. Es kommt aber nicht. Und bei dieser Affenhitze kommt man als Hund deshalb wirklich auf den Hund, will heißen, dass Hund auf sich allein gestellt ist und auf verlorenem Posten steht, weil die Menschen, um die der Hund sich zu kümmern hat, die Bullenhitze auch nicht besser vertragen als wir Hunde.
Sie sind gereizt und unkonzentriert und spätestens am Mittag scheint ihr viel gelobter Menschenverstand durch die Sonne verdampft zu sein, in der sie sich freiwillig rösten lassen.
Der heutige Tag war so richtig für die Katz. Das fing schon vor dem Aufstehen mit diesem Alptraum an. Mir träumte, ein dicker, lauter und stinkender Mann wäre mit einem Hund und zwei Katzen bei uns eingezogen. Als ich aufwachte, schimpfte ich mit mir selbst: „Emma, du bist doch kein hysterischer Kleinkläffer, sondern ein gestandener Rottweiler. Und dass Lena und Carmen noch mindestens einen Mitbewohner suchen, ist doch eigentlich eine gute Sache.“

Doch dieser ekelhafte Gestank des Mannes und der beiden Katzen gingen mir einfach nicht mehr aus dem Sinn. Woher kannte ich nur diesen scheußlichen Geruch? Trotzdem nickte ich noch einmal ein. Kurze Zeit später hörte ich Lena die Treppe herunterkommen und stand natürlich mit der falschen Pfote zuerst auf. Lena fand, dass ich nicht schnell genug an der Terrassentür war. „Emma, wo bleibst du denn? Jetzt aber ‚raus mit dir, hopp.“
Als ich gerade draußen war, machte Lena hinter mir die Tür zu. Und das ist eine von diesen isolierten Türen. So konnte ich nicht hören, was meine Frauchen drinnen besprachen. Da stand ich nun und merkte, dass mehr in der Luft lag als dieses Gewitter.
„Menschenskinder, ich passe wirklich gern auf euch auf. Aber wie soll ich das anständig tun, wenn ich nicht weiß, was abgeht?“
Also durchstreifte ich gewissenhaft witternd und aufmerksam lauschend erst einmal den Garten. Es war alles beim Alten und noch in Ordnung. Es war schon so warm, dass ich beim Gartenteich angekommen die unbändige Lust verspürte, ein kühles Bad zu nehmen. Doch ich darf nicht in den Gartenteich. Lena meint: „Das ärgert und stört die Fische.“ Mich stören verschlossene Türen, die Hund beim besten Willen nicht öffnen kann. Und diese blöde Terrassentür war so was von zu.
Schließlich machte mir mein Frauchen Carmen die Tür wieder auf. Doch es war klar, dass mir nichts anderes übrig bleiben würde, als den Vormittag im einigermaßen

kühlen Flur herumzulungern. Meine Frauchen arbeiten zwar Zuhause, aber ich kann Carmen nicht bei ihrer Übersetzungsarbeit und Lena nicht bei ihren Telefonberatungen helfen.
Gegen Mittag kam Lena die Treppe herunter, nahm meine Leine vom Haken und klinkte sie in meinem Halsband ein.
Aber wir machten keinen Spaziergang, sondern einen Einkauf. Die Einkaufstour war allerdings sehr aufschlussreich, wie es heute weitergehen sollte. Wir gingen zum Supermarkt, wo Lena Obst, Gemüse und Milchprodukte kaufte.
Danach ging Lena in die Metzgerei. Als sie herauskam, roch es aus ihrer Tasche köstlich nach Koteletts, Würstchen und Bauchfleisch. Das konnte nur bedeuten, dass heute Besuch zum Grillen kommen sollte. Ich mag Grillen eigentlich nicht. Der Feuergestank geht mir auf den Geist. Doch zumindest gibt es normalerweise für mich eine gute Portion ungewürztes Fleisch, oft sogar mit einem Knochen.

Auch in der Bäckerei kaufte Lena ein. Sie nahm von dort nicht nur Brot, sondern auch Kuchen mit. Also würde der Besuch schon zum Kaffeetrinken kommen. Endlich Zuhause angekommen, musste ich eine derbe Enttäuschung hinnehmen. Lena würzte das Fleisch, legte es in eine Marinade ein und verstaute es im Kühlschrank. Doch diesmal ließ sie nicht ein einziges Häppchen ungewürzt und schnitt nicht einmal einen kleinen Knöchen für mich ab. Was mochte das für ein Besuch sein, der Menschen dazu trieb, ohne Not den

gerechten Anteil für den treuen Rottweiler zu vergessen? Und wieder musste ich an den scheußlichen Kerl in meinem Alptraum denken. Ich bin ein wachsames, aber auch gastfreundliches Haustier. Doch als die Kühlschranktür vor dem Fleisch, von dem ich nichts abbekommen sollte, von Lena zugemacht wurde, erreichte meine Lust, diesen Besuch zu empfangen, ihren absoluten Nullpunkt.
Dann hieß es wieder warten. Doch endlich kam Carmen die Treppe herunter. Sie kochte Kaffee und deckte den Tisch. Als sie die Thermoskanne mit dem Kaffee auf den Tisch gestellt hatte, ging sie noch einmal nach oben, um sich frisch zu machen. Jetzt konnte es wirklich nicht mehr lange dauern, bis der Besuch kommen sollte. Ich ging witternd und mit gespitzten Ohren im Flur auf und ab. Schließlich hielt ein Auto vor dem Hoftor und zwei Männer stiegen aus.
Gemeinsam kamen die beiden auf die Haustür zu. Der Eine verabschiedete sich von dem Anderen und ging zum Auto zurück. Der Andere, der wie der Kerl in meinem Alptraum stank, wartete noch, bis der Erste nicht mehr zu hören war, tastete dann nach dem Klingelknopf, wie es auch Carmen tut, weil sie blind ist. Dann wartete er noch ein bisschen. Doch genau in dem Augenblick, als er Sturmklingeln wollte, um uns alle zu erschrecken, schlug ich kräftig an. Wenn Einer mir so kommen will, muss er mehr auf Zack sein. Weil er mich hatte ärgern wollen und mir gewaltig stank, bekam dieser Wichtigtuer selbstverständlich nicht meinen freundlichsten Begrüßungston zu hören. Ich ließ ein
74 Knurren im Ansatz, gefolgt von einem lauten Bellen und einen grollenden Ausklang hören. Der Kerl erschreckte sich zwar und zögerte, aber er fand schnell seine Gelassenheit wieder und setzte zu seinem geplanten Sturmklingeln an.
„Emma, aus!“, brüllte Lena, als sie und Carmen gemeinsam die Treppe herunter kamen. Dieser gemeine, keifende Unterton hätte wirklich nicht sein müssen, obwohl ich gerade ungeheure Lust verspürte, bei meinem Drohen noch einen Zahn zuzulegen, aus tiefster Brust zu knurren und die Lefzen hörbar hochzuziehen. Gehorsam, wie ich nun einmal bin, stellte ich meinen Protest gegen diesen ekelhaften Typen sofort ein und verzog mich unter den Wohnzimmertisch. Dort wartete ich auf die Menschen. Ich konnte nicht abhauen. Schließlich musste ich ja herausfinden, ob sich mein Alptraum bewahrheiten würde. Bei Menschen weiß man nie, was sie so anstellen.

Eine Zeit lang unterhielten sich die Menschen im Flur. Als ich die Stimme des Mannes hörte, fiel mir plötzlich ein, woher ich ihn kannte. Ich erinnerte mich mit Schaudern daran, dass er einmal mit Carmen ausgegangen war, als ich noch ein Welpe gewesen war. Es war damals ein sehr langer Abend in einer Kneipe in der Innenstadt geworden. Er hatte viel auf Carmens Kosten getrunken. Und er hatte geredet und geredet. — Wen er kennt, was er weiß, wie schön er ist, wie klug er ist.‘.. — Er heißt übrigens Horst.
Er ließ sich von Lena ins Wohnzimmer führen und setzte sich auf das Sofa. Leider hatte er mich wohl
gehört, weil ich mich nicht absolut still verhalten kann. Ich bin ja noch nicht tot. Er beugte sich zu mir herunter, tätschelte meine linke Seite und begann, auf mich einzureden.
„Wie schön, dass wir uns wiedersehen. Braver Hund, Emma.“

Carmen und Lena kamen mit dem Kuchen ins Wohnzimmer und setzten sich Horst gegenüber an den Tisch. Das passte ihm nicht. Und ich erinnerte mich daran, dass er damals in der Kneipe allzu gern mit Carmen auf Tuchfühlung gegangen war. Ich spürte heute Nachmittag, wie sehr er sich über die Distanz zu seinen Artgenossinnen ärgerte, genauso wie er sich damals über Carmens vorsichtigen Rückzug auf die andere Seite des Tisches geärgert hatte.
Er tätschelte wieder und wieder meine Seite. Dann begann er wieder auf mich einzureden: „Na, Emma, wie geht es uns bei dieser Hitze denn so, Dicke?“
Lena war so dumm, auf dieses Gerede zu reagieren, indem sie sagte: „Ja, das ist so eine Sache bei dieser Art von Hunden. Ich denke auch oft, dass die Emma zu dick und schwerfällig ist.“
Doch Carmen sagte das, was ich dachte: „Das, was die Emma auf ihren kräftigen Knochen hat, ist reines Muskelfleisch. Wovon sollte sie auch zu dick sein? Sie trainiert fleißig im Hundeverein und ist auch sonst nicht faul.“
Endlich ließ er von mir ab. Das Thema war fürs Erste erledigt. Doch er redete und redete.

Beim Kaffeetrinken langten Horst und Lena kräftig zu. Und sie hing förmlich an seinen Lippen. Was die an diesem „Stinkstiefel“, wie Menschen so sagen, findet? Schließlich kam er zum Grund seines Besuches und erzählte, dass er für sich und seine Haustiere eine neue Bleibe suchte. Nach dem Auszug seiner Freundin kann er sich die Miete für die Wohnung, in der er gerade lebt, nicht mehr leisten. Und natürlich zeigten meine Frauchen ihm nach dem Kaffeetrinken das ganze Haus, vom Keller bis zum Dachboden. Carmen tat es aus Gutmütigkeit und verhielt sich sehr zurückhaltend. Lena tat es aus wachsender Begeisterung für diesen Kerl. Sie wurden sich handelseinig und stießen beim Grillen auf die neue Hausgemeinschaft an. Er wird also mit seinen beiden Katzen und seinem Blindenführhund in zwei Wochen bei uns einziehen.

Kaum war das geklärt, begann er wieder ohne Unterlass zu reden. — Wen er kennt, was er weiß, wie schön er ist, wie klug er ist… Er unterbrach sich selbst nur kurz, um zu trinken. Er redete auch mit halb vollem Mund weiter. Er ist das, was Menschen einen Schaumschläger oder Dünnbrettbohrer nennen. Ich meine:
„Er ist ein Luftbeißer und Wasserschnapper.“

Wenn er doch wenigstens seine Hündin mitgebracht hätte. Dann hätten wir einander schon einmal beschnuppern und ein Gespräch von Hündin zu Hündin über die neue Hausgemeinschaft und die gemeinsame Zukunft führen können. Aber was konnte man von so einem schon erwarten?
Es war bereits dunkel, als sena und ich Horst zur Bushaltestelle begleiteten. Auf dem Rückweg begann Lena mit mir zu schimpfen: „Was ist los mit Dir, alte Miesepeterin? Du hast ja zu überhaupt nichts mehr Lust, faules Stück.“
Und ich dachte so bei mir: „Ich bin nicht faul. Und da gibt es einige Sachen, auf die ich richtig Lust habe, ein kühles Bad im hauseigenen Gartenteich, ungewürztes Fleisch, vielleicht sogar mit einem Knochen und eine unkomplizierte Hausgemeinschaft mit Leuten und Tieren, die nicht stinken.“

Liebe Grüße

Paula Grimm

Schmackhafte Vorsätze (Sieben Sachen)

Guten Tag,

heute geht es gleich zweimal weiter im Text, was die sieben Sachen betrifft. Die beiden skurilen Sachen sind jetzt an der Reihe, obwohl sie jahreszeitlich manchem vielleicht nicht als Lesefutter passen. „Was macht’s? Die fressen doch kein Brot“, würde meine Mutter jetzt sagen. Und weil das so ist, können beide Kurzgeschichten zu gegebener Jahreszeit zum passenden Termin natürlich erst oder wieder gelesen werden.

Für die Geschichte in diesem Beitrag gilt: „Vorsicht schwarzer Humor“.

Sie entstand für die schreibgruppe der evangelischen Blindenseelsorge im Rheinland zum Thema Silvester (2008-2009).
Ich wünsche gute Unterhaltung.

Schmackhafte Vorsätze

Lieber Benno, lieber Franz, lieber Fred und liebe Elfi,

meiner Einladung zu dieser Silvesterparty seid Ihr sicher alle gern gefolgt. Das freut mich aufrichtig! Illusionen über die Gründe Eures Kommens mache ich mir nicht. Seid herzlich in meinem Haus willkommen und stört Euch nicht daran, dass ich, wie Ihr sicherlich bereits gemerkt haben werdet, nicht leibhaftig anwesend sein kann und Ihr daher fast nur mit der Aufnahme, die Ihr gerade hört, Vorlieb nehmen müsst.

Eine Videoaufnahme habe ich Euch erspart, da ich ja alles andere als telegen bin, nicht wahr Elfi? Ihr hattet bestimmt mit einer Einladung zum Weihnachtsfest gerechnet, bei dem es dann ein besonders üppiges Menü und zahlreiche Geschenke hätte geben sollen. Es tut mir leid, aber diesmal war es für mich unumgänglich mich auf eines der Feste zu beschränken. Und zumindest zum Jahreswechsel ist es so wie Ihr es gewöhnt seid und wie Ihr es erwartet, es gibt reichlich umsonst.

Was die Feste betrifft, wird sich alles ändern. In gewisser Weise ist es schon das Ende, obwohl es nicht die letzte, sondern erst die vorletzte Einladung von mir ist. Was das letzte Fest, betrifft, so komme ich am Ende dieser Aufnahme noch darauf zu sprechen.

Dass es bezogen auf Einladungen und Feste in dieser Familie nicht so bleibt wie es war, ist einerseits eine schlechte Nachricht, denn ich werde nie wieder diejenige und die einzige sein, die den Beweis dafür antritt, dass Liebe durch den Magen geht, indem sie auffährt, was kulinarisch möglich ist. Andererseits ist es eine gute Nachricht für Euch, denn ab sofort müsst Ihr Euch nie wieder den Kopf darüber zerbrechen, warum Ihr mich nicht einladet, warum für Euch gelten kann, aus der Ferne liebt es sich leichter. Ich kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass ich meinen Teil dieses zwiespältigen Familienkonzepts erfüllt habe, denn ich weiß bestimmt, Ihr habt mich trotz meiner Unabhängigkeit und trotz meiner Lebensweise, die Euch überhaupt nicht in den Kram passen, die Ihr mir nicht zugesteht, einfach zum Fressen gern. Betrachtet also diese vorletzte Einladung und vor allem den folgenden Gang des Menüs als meinen aufrichtigen Dank für diese, Eure Liebe!

Da ich schon länger weiß, dass meine Tage gezählt sind, blieb mir genug Zeit meine Vorbereitungen zu treffen. Ich bin die Sache wieder einmal auf meine Art angegangen, habe so gelebt wie zuvor und habe dabei gleichzeitig einen außergewöhnlichen Plan speziell für Euch ausgeheckt. Und ich bin mir sicher, dass ihr mir gerade diesen besonderen Plan und seine Umsetzung, die wirklich nicht einfach war, nicht zugetraut habt. Unter uns gesagt, ist die Sache wie sie abgelaufen ist, nicht ganz legal. Aber ich werde Euch nicht mit den Einzelheiten über die Umgehung gewisser gesetzlicher Vorgaben langweilen.

Sollte Euch mein Vorgehen so befremden, dass Ihr Euch nur Rache als Motiv vorstellen könnt, muss ich Euch enttäuschen oder beruhigen, je nach dem, wie Ihr das empfindet. Nein, ich hege keine Rachegelüste, zum Beispiel wegen des Betrugs, den Ihr an mir bezogen auf Vaters Erbe begangen habt. Wozu auch? – Aus mir ist ja auch ohne Eure Firma was geworden und gut verdient habe ich auch, kaum zu glauben, nicht wahr, Benno?

Wir haben von unserer Mutter gelernt, man ist, was man isst. Also muss umgekehrt wohl gelten, man ist nicht, was man nicht isst. Und jeder braucht etwas anderes. Wenn nun das, was man braucht und noch nicht ist, „artgerecht“, also im Mitmenschen verfügbar ist, ist es naheliegend und folgerichtig sich das, was man braucht und noch nicht ist, vom Anderen zu nehmen oder sich von ihm freiwillig geben zu lassen. Ich gebe freiwillig, ungefragt und gern. Und ich bin daran gewöhnt mich nützlich zu machen. So nutze ich jetzt die Möglichkeit jedem von Euch das von mir zu geben, was er braucht, noch nicht hat und deshalb auch noch nicht ist. Und da wir unter uns sind, bleibt es in der Familie.

Dass meine Speisenauswahl für den folgenden, individuell auf jeden von Euch abgestimmten, Gang, Eurem Geschmack und Euren Vorstellungen vollkommen entspricht, wage ich zu bezweifeln. Schon, weil Ihr wie immer betonen werdet, dass Ihr anders und besser seid als ich, wird es Gemecker geben. Aber ich kann einfach nicht aus meiner Haut und tue und gebe, was ich kann. Und es bleibt ja in der Familie.

Aus kulinarischer Sicht sind die individuellen Speisen des nächsten Gangs absolut unbedenklich und nach den Regeln des guten Geschmacks komponiert. Dafür wird wie eh und je meine gute und treue Lena Sorge tragen. Dafür, dass mein Rezept bei und für Euch seine Wirkung tun wird, gibt es natürlich keine Garantie. Jede der folgenden Speisen ist ein leibhaftiger Wunsch von mir für einen jeden von Euch. Wenn es hilft, geht es Euch und Euren Mitmenschen bald besser und Ihr braucht für das nächste Jahr nicht einmal einen guten Vorsatz zu fassen, den Ihr eigentlich sowieso nicht halten wollt. Was Euch gleich vorgesetzt wird, ersetzt jeden guten Vorsatz, dem Energiestoffwechsel sei Dank! Und Ihr braucht nichts dazu zu tun als das, was ihr sonst auch tut, alles zusammenraffen und in Euch hineinstopfen, was Ihr kriegen könnt. Zumindest hat mein Plan für Euch bisher zeitlich ausgezeichnet funktioniert. Und wenn meine guten Vorsätze für Euch nicht wirken, zählen zumindest in gewisser Weise die guten Absichten und die Geste selbst. Da bin ich sicher! Und selbst Fred kann meiner nicht mehr habhaft werden wie ihm beliebt.

Benno, Dir habe ich ein gegrilltes Stück vom Nacken zugedacht. Du hast Dir dieses spezielle Gericht verdient, weil Du einer der größten, wenn nicht der größte, Geizkragen bist, den ich kenne. Aber Auch Du brauchst Dir keine Sorgen zu machen, alle Zutaten sind vom Feinsten. Und Du brauchst Dir auch keine Gedanken darüber zu machen, dass Du zu kurz kommst. Auch Dir gebe ich selbstverständlich gern Und in diesem besonderen Fall wirst Du mir sicher ausnahmsweise keine Verschwendungssucht unterstellen. Denn auch Dir gebe ich natürlich und wie immer gut, viel und gern. So handelt es sich bei dem, was auf Deinem Teller liegt, nicht nur um das größte Stück, sondern auch um die beste Marinade und nicht um das gepanschte, billige Zeug, das Du anbietest, wenn Du Dich genötigt fühlst, Gäste bewirten zu müssen. Und darum haben wir keine Kosten und Mühen gescheut, die besten und frischesten Zutaten in großzügiger Menge für Sauce und Beilagen zu beschaffen und diese hat Lena eigenhändig und sorgfältig verarbeitet. So bekommst Du ordentlich was zwischen die Zähne, Du alter Gierschlund!

Franz, wenn Du jetzt denken solltest, dass Du das pikante Herzragout nach Provincealischer Art bekommst, weil bei Dir seit eineinhalb Jahren ein Herzproblem medizinischer Art vorliegt, bist Du gewaltig auf dem Holzweg. Wäre das der Fall, müsste ich der Unbedenklichkeit meiner Speisen zum Trotz den Hinweis geben: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker.“ Du brauchst dieses schmackhafte Herzragout gegen einen Herzfehler, den Du schon seit wir alle denken und fühlen können, hast, der aber keineswegs angeboren und nicht medizinisch behandelbar ist. Hoffentlich hilft das Herz wenigstens ein Bisschen gegen Deine Kalt- und Hartherzigkeit gegen alles und jeden. Lena wird durch eine sachgemäße und liebevolle Zubereitung des Herzragots eine Speise zubereitet haben, bei der das Herz einerseits weich und zart ist, wie ein gutes Herz eben ist, das aber andererseits noch eine solide Konsistenz hat, wie es sein muss, um beherzt und gut zu leben. Das Herzragout weicher als Dein Herz zu kochen, war sicherlich die einfachere Aufgabe bei der Zubereitung des vorzüglichen Herzens. Von Dir stets als zu gutherzig befunden bleibt mir nur Dir von ganzem Herzen einen gesegneten Appetit und gute Besserung zu wünschen.

Fred, Deine herausragende Bedeutung als Kopf des Familienunternehmens würdige ich mit einem besonderen Leckerbissen, mit eingelegtem Hirn. Zumindest bei Dir bin ich mir recht sicher mit der Speisenauswahl richtig zu liegen. Außergewöhnliche Pläne und Ideen sind ganz nach Deinem Geschmack. Obwohl es durchaus sein kann, dass mein Einfall Dir wohl nicht undurchsichtig und abgefeimt genug ist. Aber ich habe natürlich meine Gutwilligkeit, die Dir immer schon ein Dorn im Auge war, und für die Du bislang immer Hohn und Spott übrig hattest, auch Dir gegenüber nicht verloren. Ich möchte Dir mit diesem exzellent zubereiteten Gehirn zeigen, dass ich guten Willens bin Deinem hervorragend entwickelten Denkvermögen ganz neue Impulse zu geben. Ich habe so meine Zweifel, ob dieses Gericht bei Dir überhaupt etwas bewirken kann, Du alter Starrkopf und Dickschädel! Aber zumindest beim Verzehr dieses schmackhaften Gerichts werden Dir nur gutartige Gedanken und Ideen in den sinn kommen. Denn die Zubereitung ist absolut delikat! Ich wünsche Dir gute Pläne und Ideen zum Nutzen aller, mit denen Du zu tun hast und jetzt erst einmal einen gesegneten Appetit!

Elfi, ich weiß, wie schwer es Dir gefallen ist, für die Dauer meiner Ausführungen Deine spitze Zunge im Zaum zu halten. Und es ärgert Dich, dass ich schon wieder einmal eine Möglichkeit gefunden habe, mich nicht auf Deine Lügen und Lästereien einlassen zu müssen. Und auch mit Deiner Angeberei habe ich ab sofort nicht mehr das Geringste zu schaffen. Keine Sorge, bei den folgenden Gängen wird Dir noch genug Zeit für Spott und Verleumdungen bleiben. Ich weiß ja leider nicht, ob und wann mein Gericht seine Wirkung entfaltet. Dass sich Zunge und Wange in Aspik im Vergleich zu den anderen Speisen dieses Gangs verhältnismäßig bescheiden ausnehmen, stört Dich bestimmt nicht. Denn Du bist ja gerade wieder einmal dabei abzunehmen und behauptest wie immer soooo bescheiden zu sein wie niemand sonst in der Familie. Du lebst aber Deiner Behauptung zum Trotz mit Deiner Habgier und Deiner Aufmachung nach dem Motto: „Bescheidenheit ist eine Zier, doch es geht ganz ohne ihr!“ Daher drücke ich mit meinem Gericht für Dich den Wunsch aus, dass Du in den nächsten Jahren den Mund nicht mehr so voll nehmen musst und jetzt erst einmal einen guten Appetit!

Damit Ihr jetzt aber ungestört kräftig Zulangen, die nächsten Gänge des Menüs und den Jahreswechsel genießen könnt, möchte ich nur noch zwei Bemerkungen machen.
Zum einen möchte ich Euch herzlich zu meinem letzten Fest einladen, bei dem Ihr Euch wie immer um nichts kümmern müsst. Am Montag dem 05. Januar findet um 11.00 Uhr die Beisetzung derjenigen sterblichen Überreste statt, für die mir kein passender Verwendungszweck eingefallen ist. Ihr braucht Euch also nicht um den kläglichen Rest zu streiten. Und Ihr müsst Euch auch deshalb nicht sorgen, weil ich ja seit vielen Jahren das Doppelgrab auf dem Nordfriedhof habe, wo schon mein Richard seine Letzte Ruhe gefunden hat. Ihr braucht Euch also um nichts zu kümmern, keine Sorgen zu haben und müsst auch nichts bezahlen. Dass es eine kostenlose Veranstaltung ist, wird vor allem Dich freuen Franz, da Du ja derjenige bist, der Richard und mir in Wort und Tat immer gezeigt hast, wie überaus herzlich Du uns zugetan warst, gerade, sodass Du Dir von je her Sorgen gemacht hast, wie Du uns meiden konntest und uns zu verstehen gegeben hast, dass wir für Dich nichts wert sind. Endlich sind wir dann wieder vereint, der Richard und ich. Der Leichenschmaus wird dann um 12.00 Uhr im Restaurant des Seehotels stattfinden.

Die zweite Anmerkung, die ich eben angekündigt habe, ist, dass ich Euch beruhigen kann. Denn diese Silvesterparty ist wirklich nicht das Letzte, mit dem Ihr abgespeist werdet, wenn sich schon alles ändern muss. Nach dem kostenfreien Mittagessen im Seehotel findet nämlich direkt die Testamentseröffnung statt. Und ich verspreche Euch nicht zu viel, wenn ich sage, dass es sich für jeden von Euch lohnt, das erbe nicht auszuschlagen, obwohl ich den Löwenanteil meines Vermögens der Lena und den Belangen der Hunde in dieser Stadt vermache. Ich wünsche Euch also von ganzem Herzen einen schönen Jahreswechsel, alles erdenklich gute für das Jahr 2009 und viele weitere Jahre und vor allem gute Besserung!

Liebe Grüße

Susi

Übertötung statt Overkill

Guten Tag,

von ihr, Gesken Paulsen, werdet Ihr in den nächsten Jahren viel Lesen und hören. Über ihr Leben wird es kurze Geschichten, Erzählungen und Kurzgeschichten geben. Seit 2022 begleiten mich ihre Lebensgeschichten.

Es gab da einen Fall, den ich mir sehr genau vorgestellt hatte. Aber mir fiel auf, dass dieser Fall verbunden mit einer interessanten Lebensgeschichte für mich nicht zu schreiben war, ohne dass gesken ihre eigene Geschichte bekommt.

Derzeit arbeite ich an dem Roman über die Geschichte von Geskens Kindheit. Aber hier kommt eine Episode, die zunächst in einer Anthologie, farbenfrohe Dunkelheit, erschien.

Bei den BLAutoren bin ich nicht mehr aktiv. Und die Kurzgeschichte wurde leicht überarbeitet.

In diesem Text geht es darum, wie sich das Leben mit einer erlebten Katastrophe verändern kann, wenn sich der Mensch einen neuen, in gewisser Weise, eigenen Begriff von dem erlebten Unheil machen kann.
Übertötung statt Overkill

Am Abend des 07. Juli 1969 sitzt Gesken auf ihrem Bett. Ihr Zimmer ist ein schmaler Raum. In ihm stehen nur das Bett und ein Regal mit ihren Sachen. Er hat keine Tür.
Gesken kann in die Küche sehen. Die Küchentür ist offen. Ihre Mutter sitzt mit einer Illustrierten am Küchentisch. Der Geruch ihres schweren, süßen Parfums dringt Gesken in die Nase.

Gesken hört den Wagen ihres Vaters auf den Hof fahren. Der Vater stellt den Motor ab, bleibt aber wie immer noch kurze Zeit im Auto sitzen. Die Autotür wird zugeschlagen, die Schritte des Vaters kommen auf das Haus zu. Er öffnet die Haustür und geht in die Küche. Sein Geruch nach kaltem Rauch und Rasierwasser steigt ihr in die Nase.

Er wirft das Feuerzeug und die Schachtel mit den Zigarillos auf den Tisch. Er will erst einmal in Ruhe rauchen.

„Dass du es nur weißt, ich verlasse dich und den ganzen Scheiß hier!“
Diesen Satz hat die Mutter schon sehr oft gesagt. Aber bisher ist der Satz nie allein gewesen, ist immer in einem der vielen Wortgefechte gesagt worden, die die Eltern sich täglich geliefert haben. Auch der Tonfall ist anders als sonst. Der Satz stellt sich klar und deutlich zwischen ihre Eltern.

Der Vater merkt die Veränderung auch und hält inne. Er hat Gesken den Rücken zugedreht.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, keift die Mutter.
Der Vater nickt heftig und fragt:
„Ist da ein anderer Kerl im Spiel?“
Ein kurzes, spitzes Lachen ist die Antwort.

Die Mutter springt auf. Jetzt stehen sich die Eltern Auge in Auge gegenüber. Das lässt plötzlich alle Gefühle, die sie gegeneinander gehegt haben, los. Gleichgültigkeit, Machtgier, Zorn und Geltungssucht wirbeln herum. Ein Sturm, der Gesken erfasst, keinen Platz mehr für ihre Gefühle lässt, sie erstarren lässt aber ihre Wahrnehmungen schärft wie nie zuvor.

Dann beginnt der Vater in der Küche umherzugehen. Er holt Schwung für etwas, das noch nie da gewesen ist.
Gesken hört, wie er an der Anrichte inne hält, sich plötzlich umdreht und auf die Mutter zuspringt.
„Dass du es nur weißt, einen Viktor Eisenbeiß verlässt man nicht!“

Gesken sieht das Messer in seiner Hand aufblitzen, hört den langen Schrei der Mutter und wie sie auf den Boden fällt. Wieder und wieder sticht der Vater auf die Mutter ein. Bald schreit und bewegt sich die Mutter nicht mehr. Gesken sieht das Blut, das Messer, die Hand des Vaters und sein Gesicht.

Seine Bewegungen sind so schnell und heftig, dass sie Gesken und das gesamte Erdgeschoss besetzen. Daher kann sich Gesken nicht mehr bewegen. Mehr noch. Gesken kann gar nicht mehr reagieren. Denn auch der metallisch süßliche Geruch nach Blut, der die anderen Gerüche beherrscht, lähmt Gesken. In der Raserei bleibt das Gesicht des Vaters nicht unbewegt. Es hält mit der Hast des übrigen Körpers Schritt. Schnell leuchten Zorn, gekränkte Eitelkeit über die Zurückweisungen seiner Frau, Bosheit und Zerstörungswut in seinem Gesicht auf.
So heftig und hastig diese Gefühle in seinem Gesicht auftauchen und wieder verschwinden, ist da in der ganzen Zeit auch etwas, das gleich bleibt. Es ist wie ein dünnes Netz vor seinem Gesicht, das vor Genugtuung und Selbstzufriedenheit glänzt.
So plötzlich die Raserei angefangen hat, so plötzlich ist sie wieder vorbei. Dann ist das Gesicht des Vaters ganz leer. Das Messer fällt klirrend zu Boden. Aber er selbst fällt nicht um.

Er steht lange da. Sein Ausdruck wird ganz ruhig. Er bückt sich nach dem Messer, nimmt es an sich, grinst und geht an der Leiche der Mutter vorbei, die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Gesken hört, dass er sich duscht, einige Sachen packt.
Er kommt mit einem Koffer in der Hand wieder herunter, nimmt die Schlüssel, geht hinaus. Kurze Zeit später hört Gesken den Vater wegfahren.

Es dauert, bis sie sich wieder bewegen kann, begreift, dass da niemand mehr ist, der sie zerstören kann.

Plötzlich war da die andere Stille, eine Stille, wie sie in Sälen herrschen kann. Doch es war nicht ganz genau die Ruhe, die Pr. Sidney Frederick von seinen kriminologischen Vorträgen kannte, und die er gern selbst erzeugte. Dazu stellte er immer eine Frage, und zwar so, dass niemand in seinem Publikum vor Spannung oder eingeschüchtert zu antworten wagte.

Dass die Stille den Experten des FBI aus dem weißgestrichenen Haus in Jensum und vom 07. Juli 1969 wieder in den Hörsaal und zum 08. Juli 1987 zurückführte, dauerte seine Zeit. Endlich war Pr. Frederick im Stande auf die aufgeschlagene Seite des Notizbuchs zu blicken, das vor ihm lag.
Oben stand: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.
Darunter las er in seiner eigenen Handschrift: „Gesken Paulsen, vorgeschädigt durch Kindheitstrauma, Vorgeschädigte sind die Schlimmsten, schlimmer als ehrgeizige Emanzen oder die mit schlechtem sozialem Gewissen, werden brillante Ermittler, wenn sie Ausbildung und die ersten Jahre überstehen. Overkill mit 42 Stichen, drei davon absolut tödlich, Todeszeit zwischen 19:30 und 20:30 Uhr.“

Pr. Frederick riss die beschriebene Seite aus dem Buch, faltete sie und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. Er stand auf und ging nach vorn zum Pult.

Die junge Frau stand immer noch da. Sie stützte sich auf das Pult und hatte die Augen geschlossen.
Pr. Frederick sah zur Tafel hinüber. Die beiden Fotos klebten immer noch auf der grünen Fläche.
Das eine Bild zeigte einen gut gekleideten jungen Mann. Er hatte blondes Haar und trug eine teure Brille. Über seinem Foto stand: „Viktor Eisenbeiß“.

Das zweite Foto zeigte eine junge Frau in einem sehr weit ausgeschnittenem Sommerkleid. Sie war blondiert wie die Monroe. Das war Imke Eisenbeiß.

Zwischen den beiden Fotos hatte die junge Frau in Bildbreite Platz gelassen. Mit Kreide hatte sie auf die grüne Fläche geschrieben:
„Wenn ik Groot bün, fang ik Möörder.
Gesken Eisenbeiß, 12. Juli 1969.“

Pr. Fredericks Vortrag hatte wie üblich begonnen. Er hatte eine Eingangsfrage gestellt:
„Wer kann anschaulich erklären, was ein Overkill ist?“ Und wie sonst üblich war zunächst beredtes Schweigen die Antwort gewesen. Er hatte, um die Wirkung auf sein Publikum zu verstärken, einen strengen Blick aus seinen stahlblauen Augen von oben nach unten über seine Zuhörer schweifen lassen.

Plötzlich hatte sich sein Blick verfangen. Pr. Frederick hatte zunächst nicht verstanden, warum er seinen Blick nicht von der jungen Frau hatte lösen können.
Sie saß links außen in der ersten Reihe. Was er sofort begriffen hatte, war, dass sie seinem Beuteschema leider nicht entsprach. Für seinen Geschmack war sie mit ihren 1,90 Metern zu groß, mit dem sorgfältig geflochtenen schwarzen Bauernzopf zu dunkel. Und zu dünn war sie auch.

Was sie für ihn zu einem Blickfang gemacht hatte, war, dass er noch nie einen Menschen gesehen hatte, der aufmerksam war wie sie. So ruhig wie sie auf dem Platz gesessen hatte, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihre Konzentration gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet hatte.

Dann hatte sie einen Stift genommen, etwas in ihr Notizbuch geschrieben und dabei die Lippen bewegt. Plötzlich hatte sie so schnell und heftig die Hand gehoben, dass die Bewegung Pr. Frederick erfasst hatte und er dem Impuls auf sie zu reagieren nicht hatte widerstehen können.
„Ja, bitte?“
„Ich kann anschaulich zeigen, was eine Übertötung ist.“
Ihre Stimme war tief und angenehm.
„Dann kommen Sie her und zeigen es uns.“

Sie hatte sich nach ihrem Rucksack gebückt und eine Mappe herausgenommen, bevor sie aufgestanden und an das Pult getreten war.
„Wie heißen Sie?“
„Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

Sie war an die Tafel gegangen und hatte die Fotos ihrer Eltern mit durchsichtigem Klebeband auf die grüne Fläche geklebt und hatte die Namen darüber geschrieben.
„Da fehlen Sie doch noch.“

Sie hatte genickt und gesagt:
„Fotos gibt’s aus der Zeit nicht.“

Nach kurzem Nachdenken hatte sie dann ihren Schwur oder wie man es nennen sollte, auf die Tafel geschrieben und war zum Pult zurückgekehrt.

Pr. Frederick hatte sich auf ihren Platz gesetzt und gelesen, was auf der aufgeschlagenen Seite ihres Notizblocks gestanden hatte: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.

Als sie sachlich berichtete, was am 07. Juli 1969 vorgefallen war, klärte sich ihr Blick auf, als ob sie sowohl für sich selbst als auch ganz allgemein etwas aufgeklärt hätte, was schon lange der Aufklärung bedurft hatte. Ihr Blick war so klar und leuchtend geworden, dass die Augenzeugen zunächst wie geblendet gewesen waren, bevor sie sich dann hinter ihrem Blick als das Kind gezeigt hatte, das sie im Juli 1969 gewesen war. Ein schreckliches Wunder war dann geschehen. Die Anwesenden hatten miterlebt, was sie als Kind erlebt hatte.

Als Pr. Frederick dann schließlich neben ihr am Pult stand, ließ er einen prüfenden Blick durch den Saal schweifen. Viele Zuhörer waren noch immer leichenblass. Niemand hatte sich von der Stelle bewegt. Es roch nach Erbrochenem.

„Haben Sie jetzt, was Sie wollten? Ist es jetzt für Sie endlich vorbei oder was?“, fragte Pr. Frederick scharf. Gesken schüttelte den Kopf.
„Was machen Sie jetzt?“
Ihre dunkelblauen Augen sahen sich um. Dann antwortete sie: „Ich hole erst mal was zum Putzen.“

Als sie ging, um Putzzeug zu holen, suchte Pr. Frederick den Blickkontakt zu seinem alten Mentor, Prof. Hollmann.
Der alte Mann lächelte verschmitzt und sagte: „Ich habe Ihnen doch gestern beim Abendessen gesagt, dass heute ein guter Tag zum Lernen für Sie sein wird.“
Dann machte er eine Pause und fügte hinzu: „So lebendig und anschaulich werden auch Sie nie wieder eine Übertötung erleben.“

Pr. Frederick verzog das Gesicht und Prof. Hollmann sagte streng: „Beschweren Sie sich bloß nicht. Sie haben, was Sie wollten. Sie wollten doch einmal Live dabei sein und nicht immer erst kommen, wenn es vorbei ist.“
Hatte er sich das wirklich gewünscht? Er war wütend auf sich. Aber dieses von dieser Göre verursachte Gefühl wollte er nicht auf sich sitzen lassen.
„Man sieht sich immer zweimal im Leben. Die Blamage zahle ich dir heim, Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

© Paula Grimm, 24.03.2024