Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud (Frauengeschichten aus sieben Sachen)

Cover zu sieben sachen mit Regenbogen
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Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Der Sommer setzte die Lebenden nicht mit flirrender Hitze unter Druck. Der Himmel hielt sich bedeckt. Es regnete nicht. Sanft wehte der Wind.

„Guten Tag, Daggi!“ „Herzliches Beileid auch dir,
daggi!“ „Wie geht es dir sonst so, Daggi?“ „Hallo, bald hätte ich dich übersehen, Daggi!“

Und Daggi, wie es aus aller Munde kam, hatte wie eh und je diesen falschen, verniedlichenden Klang. Es waren viele Leute zu begrüßen, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen und vor allem Hände zu schütteln. Da das seine Zeit brauchte und sehr eintönig vor sich ging, gelang es den ganz alten Erinnerungen wie den Gerüchen von Haferschleim, den die Großmutter früher jeden Morgen für den Vater gekocht hatte, und dem Zitrusspülmittel aus der Vergangenheit und den Tiefen des Gedächtnisses aufzutauchen und so stark zu werden, dass sie die aktuellen In-Düfte der Parfüms, Deos und Aftershaves überlagerten und diese nach einiger Zeit sogar ganz zu verdrängen. Und plötzlich war auch wieder die Stimme der Großmutter zu hören, die wie zu ihren Lebzeiten in jenem Singsangdialekt von weiter rheinaufwärts sprach: „Jib dat schöne Händische, Daggi!“ Und wie eh und je klang sie dabei jammernd und schimpfend zugleich. Dieser und ähnliche Sätze in diesem Zungenschlag waren seit dreißig Jahren hier und in ihrer Familie verstummt. Doch da sie in früheren Zeiten so oft erklungen waren, mussten sie einfach ohne Sinn und Verstand in der Familie bleiben, bis der oder die Letzte, dem sie zu Lebzeiten zu Ohren gekommen waren, gestorben sein würde. Aber so oft die die Hinterbliebenen von der alten Frau Befehle erteilt worden waren, so oft sie geklagt, verurteilt und geprahlt hatte, Konnte oder wollte jemand aus der Familie diese jammernde Schimpferei imitieren.

Jeder bekam von Dagmar die rechte Hand und natürlich auch einen Gruß und einen Dank in der hiesigen leicht rauen Sprachweise. Ihre Rechte war wie die Linke und wie die Füße klein geraten und die Rechte war wieder einmal durch Macken an den Nagelbetten und einen Riss an der Daumenwurzel nicht das schöne Händchen.
„Wenigstens muss erst mal nicht gewinkt werden. Dabei verpasse ich wahrscheinlich immer noch den Einsatz, weil ein Abschiedswort noch lange kein Abschiedsblick und keine Kehrtwende zum Gehen ist, Blinde Kuh!“, dachte Dagmar.

„Es geht los, Daggi!“, sagte Martha, die Älteste von den fünf Kindern, die Gertrud geboren hatte. „Also bei ihr einhaken!“, gedacht, nichts gesagt und einfach getan, was jetzt angesagt war.

Der Weg zu dem Teil des Friedhofs, wo die anonymen Gräber waren, war, wie man so sagt, ein gutes Stück Weg. „Und gehen hilft immer irgendwie!“, bemerkte Dagmar still, während sich Martha auf dem Weg zum Grab gedämpft mit Leuten unterhielt, die vor und hinter ihnen gingen. Und deshalb musste sie auf dem Weg nicht Daggi zu ihr sagen. So war es leicht, den eigenen Gedanken nachzugehen. – „Gehen hilft immer irgendwie! – Gertrud war wie Martha die Älteste zuhause. – Zuhause in Ostpreußen, zuhause an der Bahnstrecke, wo dann irgendwann abends und nachts nicht mehr nur Güterzüge und Viehtransporte nach Osten rollten. – Zuhause, wo dann irgendwann auf den Güter- und Viehwagons Menschen nach Osten abgeschoben wurden. Und die Dunkelheit, durch die die Züge mit den Menschen in den Wagons gefahren waren, verhüllte die Tötungsabsichten und die Morde nicht, sodass Gertrud sie später genau erkannte. – Zuhause, wo dann später mit Menschen überladene Züge nach Westen fuhren. – Zuhause, von wo sich Gertrud ohne den Vater mit den Großeltern, der Mutter und den jüngeren Geschwistern zu Fuß in den ungewissen Westen hatte aufmachen müssen. Und die beiden Kleinen, Oskar und Renate waren auf der Strecke geblieben. – Gertrud war die Einzige gewesen, die nicht Daggi, sondern Dagmar zu gesagt hatte. – Voller Stolz, weil sie sich im diesem Fall einmal gegen ihren Mann und ihre Schwiegermutter durchgesetzt hatte. Anders als es bei den Namen der vier Geschwister gewesen war. So hieß Martha wie eine Jugendfreundin des Vaters. Martha empfand es als Zurückweisung so zu heißen wie jemand, die im Alter von zweiundzwanzig Jahren tödlich mit dem Auto verunglückt war. Und Martha empfand es mit Mitte vierzig immer noch unpassend, ja sogar unverschämt, dass Dagmar, Dagmar also taghell, hieß. Sie sagte immer wieder: „Es ist absurd, jemanden taghell zu nennen, die im dunkelsten Winter geboren ist, und die nie gesehen hat und nie sehen wird, was taghell ist.“
„Und selbst, wenn das stimmt, gibt es doch keinen triftigen Grund dafür der Namensgeberin und auch der Trägerin dieses Namens den Klang des Namens wegzunehmen und lebenslänglich mit diesem falschen und verniedlichenden Ton Daggi zu sagen!“, dachte Dagmar dann jedes Mal.

Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Gertruds Urne beigesetzt werden sollte. Der Mandatar wartete bis alle Trauergäste sich in einem großen Halbkreis um das offene Urnengrab versammelt hatten. Dabei ließ sich ein Augenblick der Stille und des Stillstands nicht vermeiden. Und wenn Dagmar geistesgegenwärtig genug gewesen wäre und mit dem schönen Händchen, mit dem Linken, das von Herzen kommt, in die Luft gegriffen hätte, hätte sie wohl ein großes stück von dem nur scheinbar so kleinen Glück aufgeschnappt, dass die Natur einfachen, bodenständigen Leuten wie Gertrud schenkt, Leuten, die das Herz am rechten Fleck haben. So blieb Dagmar nur die Zeit festzustellen, dass Gertrud ihren Platz für die ewige Ruhe richtig gewählt hatte. Es war ein Ort mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte Orte in ihrem garten so geschaffen wie dieser Platz, an dem sie bestattet werden würde, waren, Orte mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte es verstanden. Wer nicht einfach heimisch sein darf, wo er ist, der muss sich heimisch machen. Aber, wer solche Plätze schafft, schafft keine vollkommen heile Welt. Dazu sind diese Plätze zu bescheiden und zu leicht zu zerstören. Und um Orte zu schaffen, an denen man sich wenigstens heimisch fühlt, muss man zu oft, zu viel und zu hart arbeiten, als dass ein Stückchen heile Welt entstehen könnte.

Der Trauerredner hielt eine kurze Ansprache. Und dann folgte zumindest das Vaterunser. Das Vaterunser war auch an diesem Platz und an diesem Ort gut und einfach, wie es immer ist und wie das Gehen. Es hilft immer. In seiner Einfachheit, Klarheit und Ungereimtheit war es Gertruds Leben und damit jetzt auch ihrem Tod näher und angemessener als jedes Lied. Denn die Worte dieses Gebets sind so gesetzt, dass man sie wie bei jedem Gang rhythmisch so gestalten kann, wie es gerade angemessen ist. Auf die Länge und die rituelle Struktur einer katholischen Messe war verzichtet worden, auch um falsche Gefühligkeit von Vornherein auszuschließen. Was mit falscher Gefühligkeit auch immer gemeint sein mochte. Und es stimmte, Gertrud war keine Kirchgängerin gewesen. Sie war in den Garten gegangen so lange sie konnte. Und ihren Garten hatte sie mit Kopf, Herz und Hand gepflegt und war damit bodenständig genug, um Herz und Seele nach oben und ganz weit offen zu haben. Und damit gehörte sie in einem ganz und gar umkonfessionellen zu den gläubigen Menschen. und sie hatte gebetet.

Und was konnte auf dieses einfache und dennoch großartige Gebet folgen? Jeder Trauergast ging zum Urnengrab. In den letzten Tagen war viel und laut über die Gertruds Beerdigung gesprochen worden. Und weil alle sich bemüht hatten, so schnell und so laut als möglich mitzureden, waren viele falsche Worte gemacht worden. Und sie alle hingen jetzt plötzlich nach dem Vaterunser in der Sommerluft. Und die Tränen, die Dagmar jetzt vergoss, konnten sie nicht wegspülen.

Jeder ging allein an das Grab, auch wenn sie zu zweit an das Erdloch traten wie Martha und Dagmar. Dagmar stand da und dieses Loch in der Erde fühlte sich an wie eine Wunde.

Plötzlich wurde Dagmar gewahr, dass neben ihr ein Korb mit Blütenblättern stand. Und links neben diesem Korb, also an der Herzseite war das Urnengrab. Auf die Blütenblätter und dieses Loch war Dagmar nicht vorbereitet gewesen. Denn darüber war in der Zeit nach Gertruds Tot kein einziges Wort gesprochen worden.

Dagmar erinnerte sich daran, wie sie vor fast dreißig Jahren auf diesem Friedhof aber an ganz anderer Stelle für die Großmutter väterlicherseits einen Kranz in ein größeres Grab geworfen hatte.

Und Gertrud hatte sich ihr anonymes Urnengrab auch deshalb gewünscht, um nicht neben ihrer Schwiegermutter in das Doppelgrab gelegt zu werden, dass ihr Mann gekauft hatte. Es war wohl dieser erfolgreiche Widerstand gegen den Willen der alten Frau und ihren Sohn gewesen, der vor nicht einmal einer halben Stunde mitverantwortlich dafür gewesen war, dass die Worte der Großmutter und der Gerüche von früher auf den Plan gerufen worden waren. Was waren schon ungefähr dreißig Jahre und ungefähr 200 M Luftlinie im Vergleich zu ausgewachsenem Starrsinn und einer riesigen Portion Bosheit?

„Was ist jetzt zu tun? – Hier geht es nicht um das schöne Händchen. – Wie viele Blütenblätter müssen es sein? – Achtundachtzig!“, dachte Dagmar. „Mensch Daggi, was machst du denn da? Du hältst den ganzen Verkehr auf!“, zischte Martha ungeduldig. Martha war oft ungeduldig aber so ungeduldig?

Nicht „Nicht die Sonne bringt es an den Tag sondern die Weite!“, dachte Dagmar. „ich zähle doch nur die angemessene Zahl der Blütenblätter für Gertrud ab!“ „Die angemessene Zahl für Gertrud?“ „Ja, für Gertrud, di mit dem Schwert Vertraute. So hieß sie doch!“ „Aber, warum sagst du Gertrud zu ihr, Daggi?“ Sie war unsere Mutter!“ „Ja! Das war sie auch! Aber das war sie nicht nur!“ „Wie viele von den Blütenblättern meinst du denn zu brauchen?“ „Die fünfundsiebzig für gelebte und erlebte Jahre habe ich schon! Also sind die Zeit der vielen Arbeit, die Zeiten des Kummers, die Zeiten der Sehnsüchte, Die Zeit der Vertreibung, die Zeiten der Krankheiten, die Zeiten der Schwangerschaften und Geburten, die Zeit der Pflege und so schon bedacht!“ „Und was kommt jetzt noch?“

Diese spitze Frage nahm Dagmar erst abends, als sie in ihrem Bett lag, ganz deutlich wahr. Was sie am Urnengrab aber in Echtzeit spürte, war Marthas immer noch wachsende Ungeduld. Sie hätte Dagmar gern stehen gelassen. Aber das traute sie sich nicht. Wenn sich Martha wenigstens mit den anderen Trauergästen hätte verbünden können. Aber die warteten geduldig in gebührendem abstand, nicht nur, weil sie Dagmars Tränen sahen. Zumindest die meisten spürten wohl auch, dass alles seinen angemessenen Gang für Gertrud und Dagmar ging. Und alles ging so gut wie möglich.

„Fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr, eins als Trostpflaster für jeden Kummer, eins zum Trost für unerfüllte Sehnsüchte, eins für unerfüllte Liebe, eins für jede erlittene Ungerechtigkeit, eins als Lohn für jede Plackerei, eins für jede vergebliche Mühe, eins für jeden erlittenen Schmerz und für jede Krankheit. Und der Dank darf nicht fehlen, eins für jedes gute Wort, eins für die Zuverlässigkeit, eins für jede geübte Nachsicht, eins für die Liebe, die immer von Herzen kam, auch wenn sie immer nur eine praktische Gestalt angenommen hatte, eins für die Mühe um Gerechtigkeit und eins für die Bemühung um Verständnis, was oft nicht gelang was aber zu deinen Lebzeiten nie aufhörte.“

© Paula Grimm, 09. November 2023

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Autor: Paula

Paula Grimm ist das Pseudonym, das die Autorin seit 2012 im Gedenken an ihre mutter Gertrud Maria Paula Quenel geb. Grimm verwendet. Bei der Paula, geb. am 24.12.1965, geht es immer prosaisch zu.

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