Übertötung statt Overkill

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Guten Tag,

von ihr, Gesken Paulsen, werdet Ihr in den nächsten Jahren viel Lesen und hören. Über ihr Leben wird es kurze Geschichten, Erzählungen und Kurzgeschichten geben. Seit 2022 begleiten mich ihre Lebensgeschichten.

Es gab da einen Fall, den ich mir sehr genau vorgestellt hatte. Aber mir fiel auf, dass dieser Fall verbunden mit einer interessanten Lebensgeschichte für mich nicht zu schreiben war, ohne dass gesken ihre eigene Geschichte bekommt.

Derzeit arbeite ich an dem Roman über die Geschichte von Geskens Kindheit. Aber hier kommt eine Episode, die zunächst in einer Anthologie, farbenfrohe Dunkelheit, erschien.

Bei den BLAutoren bin ich nicht mehr aktiv. Und die Kurzgeschichte wurde leicht überarbeitet.

In diesem Text geht es darum, wie sich das Leben mit einer erlebten Katastrophe verändern kann, wenn sich der Mensch einen neuen, in gewisser Weise, eigenen Begriff von dem erlebten Unheil machen kann.
Übertötung statt Overkill

Am Abend des 07. Juli 1969 sitzt Gesken auf ihrem Bett. Ihr Zimmer ist ein schmaler Raum. In ihm stehen nur das Bett und ein Regal mit ihren Sachen. Er hat keine Tür.
Gesken kann in die Küche sehen. Die Küchentür ist offen. Ihre Mutter sitzt mit einer Illustrierten am Küchentisch. Der Geruch ihres schweren, süßen Parfums dringt Gesken in die Nase.

Gesken hört den Wagen ihres Vaters auf den Hof fahren. Der Vater stellt den Motor ab, bleibt aber wie immer noch kurze Zeit im Auto sitzen. Die Autotür wird zugeschlagen, die Schritte des Vaters kommen auf das Haus zu. Er öffnet die Haustür und geht in die Küche. Sein Geruch nach kaltem Rauch und Rasierwasser steigt ihr in die Nase.

Er wirft das Feuerzeug und die Schachtel mit den Zigarillos auf den Tisch. Er will erst einmal in Ruhe rauchen.

„Dass du es nur weißt, ich verlasse dich und den ganzen Scheiß hier!“
Diesen Satz hat die Mutter schon sehr oft gesagt. Aber bisher ist der Satz nie allein gewesen, ist immer in einem der vielen Wortgefechte gesagt worden, die die Eltern sich täglich geliefert haben. Auch der Tonfall ist anders als sonst. Der Satz stellt sich klar und deutlich zwischen ihre Eltern.

Der Vater merkt die Veränderung auch und hält inne. Er hat Gesken den Rücken zugedreht.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, keift die Mutter.
Der Vater nickt heftig und fragt:
„Ist da ein anderer Kerl im Spiel?“
Ein kurzes, spitzes Lachen ist die Antwort.

Die Mutter springt auf. Jetzt stehen sich die Eltern Auge in Auge gegenüber. Das lässt plötzlich alle Gefühle, die sie gegeneinander gehegt haben, los. Gleichgültigkeit, Machtgier, Zorn und Geltungssucht wirbeln herum. Ein Sturm, der Gesken erfasst, keinen Platz mehr für ihre Gefühle lässt, sie erstarren lässt aber ihre Wahrnehmungen schärft wie nie zuvor.

Dann beginnt der Vater in der Küche umherzugehen. Er holt Schwung für etwas, das noch nie da gewesen ist.
Gesken hört, wie er an der Anrichte inne hält, sich plötzlich umdreht und auf die Mutter zuspringt.
„Dass du es nur weißt, einen Viktor Eisenbeiß verlässt man nicht!“

Gesken sieht das Messer in seiner Hand aufblitzen, hört den langen Schrei der Mutter und wie sie auf den Boden fällt. Wieder und wieder sticht der Vater auf die Mutter ein. Bald schreit und bewegt sich die Mutter nicht mehr. Gesken sieht das Blut, das Messer, die Hand des Vaters und sein Gesicht.

Seine Bewegungen sind so schnell und heftig, dass sie Gesken und das gesamte Erdgeschoss besetzen. Daher kann sich Gesken nicht mehr bewegen. Mehr noch. Gesken kann gar nicht mehr reagieren. Denn auch der metallisch süßliche Geruch nach Blut, der die anderen Gerüche beherrscht, lähmt Gesken. In der Raserei bleibt das Gesicht des Vaters nicht unbewegt. Es hält mit der Hast des übrigen Körpers Schritt. Schnell leuchten Zorn, gekränkte Eitelkeit über die Zurückweisungen seiner Frau, Bosheit und Zerstörungswut in seinem Gesicht auf.
So heftig und hastig diese Gefühle in seinem Gesicht auftauchen und wieder verschwinden, ist da in der ganzen Zeit auch etwas, das gleich bleibt. Es ist wie ein dünnes Netz vor seinem Gesicht, das vor Genugtuung und Selbstzufriedenheit glänzt.
So plötzlich die Raserei angefangen hat, so plötzlich ist sie wieder vorbei. Dann ist das Gesicht des Vaters ganz leer. Das Messer fällt klirrend zu Boden. Aber er selbst fällt nicht um.

Er steht lange da. Sein Ausdruck wird ganz ruhig. Er bückt sich nach dem Messer, nimmt es an sich, grinst und geht an der Leiche der Mutter vorbei, die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Gesken hört, dass er sich duscht, einige Sachen packt.
Er kommt mit einem Koffer in der Hand wieder herunter, nimmt die Schlüssel, geht hinaus. Kurze Zeit später hört Gesken den Vater wegfahren.

Es dauert, bis sie sich wieder bewegen kann, begreift, dass da niemand mehr ist, der sie zerstören kann.

Plötzlich war da die andere Stille, eine Stille, wie sie in Sälen herrschen kann. Doch es war nicht ganz genau die Ruhe, die Pr. Sidney Frederick von seinen kriminologischen Vorträgen kannte, und die er gern selbst erzeugte. Dazu stellte er immer eine Frage, und zwar so, dass niemand in seinem Publikum vor Spannung oder eingeschüchtert zu antworten wagte.

Dass die Stille den Experten des FBI aus dem weißgestrichenen Haus in Jensum und vom 07. Juli 1969 wieder in den Hörsaal und zum 08. Juli 1987 zurückführte, dauerte seine Zeit. Endlich war Pr. Frederick im Stande auf die aufgeschlagene Seite des Notizbuchs zu blicken, das vor ihm lag.
Oben stand: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.
Darunter las er in seiner eigenen Handschrift: „Gesken Paulsen, vorgeschädigt durch Kindheitstrauma, Vorgeschädigte sind die Schlimmsten, schlimmer als ehrgeizige Emanzen oder die mit schlechtem sozialem Gewissen, werden brillante Ermittler, wenn sie Ausbildung und die ersten Jahre überstehen. Overkill mit 42 Stichen, drei davon absolut tödlich, Todeszeit zwischen 19:30 und 20:30 Uhr.“

Pr. Frederick riss die beschriebene Seite aus dem Buch, faltete sie und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. Er stand auf und ging nach vorn zum Pult.

Die junge Frau stand immer noch da. Sie stützte sich auf das Pult und hatte die Augen geschlossen.
Pr. Frederick sah zur Tafel hinüber. Die beiden Fotos klebten immer noch auf der grünen Fläche.
Das eine Bild zeigte einen gut gekleideten jungen Mann. Er hatte blondes Haar und trug eine teure Brille. Über seinem Foto stand: „Viktor Eisenbeiß“.

Das zweite Foto zeigte eine junge Frau in einem sehr weit ausgeschnittenem Sommerkleid. Sie war blondiert wie die Monroe. Das war Imke Eisenbeiß.

Zwischen den beiden Fotos hatte die junge Frau in Bildbreite Platz gelassen. Mit Kreide hatte sie auf die grüne Fläche geschrieben:
„Wenn ik Groot bün, fang ik Möörder.
Gesken Eisenbeiß, 12. Juli 1969.“

Pr. Fredericks Vortrag hatte wie üblich begonnen. Er hatte eine Eingangsfrage gestellt:
„Wer kann anschaulich erklären, was ein Overkill ist?“ Und wie sonst üblich war zunächst beredtes Schweigen die Antwort gewesen. Er hatte, um die Wirkung auf sein Publikum zu verstärken, einen strengen Blick aus seinen stahlblauen Augen von oben nach unten über seine Zuhörer schweifen lassen.

Plötzlich hatte sich sein Blick verfangen. Pr. Frederick hatte zunächst nicht verstanden, warum er seinen Blick nicht von der jungen Frau hatte lösen können.
Sie saß links außen in der ersten Reihe. Was er sofort begriffen hatte, war, dass sie seinem Beuteschema leider nicht entsprach. Für seinen Geschmack war sie mit ihren 1,90 Metern zu groß, mit dem sorgfältig geflochtenen schwarzen Bauernzopf zu dunkel. Und zu dünn war sie auch.

Was sie für ihn zu einem Blickfang gemacht hatte, war, dass er noch nie einen Menschen gesehen hatte, der aufmerksam war wie sie. So ruhig wie sie auf dem Platz gesessen hatte, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihre Konzentration gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet hatte.

Dann hatte sie einen Stift genommen, etwas in ihr Notizbuch geschrieben und dabei die Lippen bewegt. Plötzlich hatte sie so schnell und heftig die Hand gehoben, dass die Bewegung Pr. Frederick erfasst hatte und er dem Impuls auf sie zu reagieren nicht hatte widerstehen können.
„Ja, bitte?“
„Ich kann anschaulich zeigen, was eine Übertötung ist.“
Ihre Stimme war tief und angenehm.
„Dann kommen Sie her und zeigen es uns.“

Sie hatte sich nach ihrem Rucksack gebückt und eine Mappe herausgenommen, bevor sie aufgestanden und an das Pult getreten war.
„Wie heißen Sie?“
„Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

Sie war an die Tafel gegangen und hatte die Fotos ihrer Eltern mit durchsichtigem Klebeband auf die grüne Fläche geklebt und hatte die Namen darüber geschrieben.
„Da fehlen Sie doch noch.“

Sie hatte genickt und gesagt:
„Fotos gibt’s aus der Zeit nicht.“

Nach kurzem Nachdenken hatte sie dann ihren Schwur oder wie man es nennen sollte, auf die Tafel geschrieben und war zum Pult zurückgekehrt.

Pr. Frederick hatte sich auf ihren Platz gesetzt und gelesen, was auf der aufgeschlagenen Seite ihres Notizblocks gestanden hatte: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.

Als sie sachlich berichtete, was am 07. Juli 1969 vorgefallen war, klärte sich ihr Blick auf, als ob sie sowohl für sich selbst als auch ganz allgemein etwas aufgeklärt hätte, was schon lange der Aufklärung bedurft hatte. Ihr Blick war so klar und leuchtend geworden, dass die Augenzeugen zunächst wie geblendet gewesen waren, bevor sie sich dann hinter ihrem Blick als das Kind gezeigt hatte, das sie im Juli 1969 gewesen war. Ein schreckliches Wunder war dann geschehen. Die Anwesenden hatten miterlebt, was sie als Kind erlebt hatte.

Als Pr. Frederick dann schließlich neben ihr am Pult stand, ließ er einen prüfenden Blick durch den Saal schweifen. Viele Zuhörer waren noch immer leichenblass. Niemand hatte sich von der Stelle bewegt. Es roch nach Erbrochenem.

„Haben Sie jetzt, was Sie wollten? Ist es jetzt für Sie endlich vorbei oder was?“, fragte Pr. Frederick scharf. Gesken schüttelte den Kopf.
„Was machen Sie jetzt?“
Ihre dunkelblauen Augen sahen sich um. Dann antwortete sie: „Ich hole erst mal was zum Putzen.“

Als sie ging, um Putzzeug zu holen, suchte Pr. Frederick den Blickkontakt zu seinem alten Mentor, Prof. Hollmann.
Der alte Mann lächelte verschmitzt und sagte: „Ich habe Ihnen doch gestern beim Abendessen gesagt, dass heute ein guter Tag zum Lernen für Sie sein wird.“
Dann machte er eine Pause und fügte hinzu: „So lebendig und anschaulich werden auch Sie nie wieder eine Übertötung erleben.“

Pr. Frederick verzog das Gesicht und Prof. Hollmann sagte streng: „Beschweren Sie sich bloß nicht. Sie haben, was Sie wollten. Sie wollten doch einmal Live dabei sein und nicht immer erst kommen, wenn es vorbei ist.“
Hatte er sich das wirklich gewünscht? Er war wütend auf sich. Aber dieses von dieser Göre verursachte Gefühl wollte er nicht auf sich sitzen lassen.
„Man sieht sich immer zweimal im Leben. Die Blamage zahle ich dir heim, Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

© Paula Grimm, 24.03.2024

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Autor: Paula

Paula Grimm ist das Pseudonym, das die Autorin seit 2012 im Gedenken an ihre mutter Gertrud Maria Paula Quenel geb. Grimm verwendet. Bei der Paula, geb. am 24.12.1965, geht es immer prosaisch zu.

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