Novecento: Die Legende vom Ozeanpianisten

Guten Tag Ihr Lieben,

heute möchte ich Euch ein Buch vorstellen, das ich als Hörbuch gehört habe. Und ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich es schon gehört habe. Es hat mich so sehr beein druckt, dass es auf jeden Fall in die Bibliothek von Vielseitigkeit gehört.

Seiner Zeit, im Jahr 2001, bin ich einer Empfehlung des „WDR-Hörbuchmagazins“ gefolgt und habe es nicht bereut.

Heute, am 07. April 2024 konnte ich mich sehr freuen. Denn ich wurde fündig und habe die erste Version des Hörbuchs, das ich vor über 20 Jahren auf Kassetten gekauft hatte, auf CD erworben, nachdem es längere Zeit nicht mehr zu finden gewesen war.

INHALTSANGABE

Die Rahmenhandlung ist schnell und einfach erzählt. Die Virginian ist ein Passagierdampfer, der zwischen Europa und dem Hafen von New York verkehrt. Nach einer Überfahrt im Jahr 1900 haben alle Passagiere das Schiff im Hafen von New York verlassen. – Alle Passagiere? – Nein, nicht alle Passagiere! – Die Männer der Besatzung finden auf dem Klavier im Salon der ersten Klasse einen neugeborenen Jungen, der in einer Obstkiste liegt. Und sie kümmern sich um das Kind. Und sie geben ihm einen Namen. Es muss ein besonderer Name sein. Und so nennen sie ihn u. a. Novecento, 1900, seinem Geburtsjahr entsprechend.

Und Novecento wird das Schiff, die Virginian, nicht verlassen. Er wird der Ozeanpianist. Er verlässt das Schiff nicht, als der Kapitän beschließt, dass der Junge mit acht oder neun Jahren alt genug ist, die Virginian zu verlassen. Und er verlässt das Schiff auch als erwachsener Mann nicht, obwohl er eigentlich selbst beschlossen hat, die Virginian zu verlassen, um die Welt kennen zu lernen. Er verlässt die Virginian nicht, weil er erkennen darf, dass das nicht notwendig ist. Er muss nicht auf die Welt gehen, um sie kennen zu lernen, denn die Welt kommt mit ihren verschiedenen Menschen, Geschichten und ihrer Musik zu ihm auf das Schiff.

MEINE LESEERFAHRUNG

Der Untertitel lautet: Die Legende vom Ozeanpianisten. Und diese Geschichte hat alles, was eine Legende braucht. Sie ist wahrhaftig und phantastisch zugleich, wie es sich für eine Legende gehört.

So geschehen merkwürdige Dinge, zum Beispiel als Novecento bei einem Sturm die Bremsen des Pianos löst und versucht, das Klavier mit seinem Spiel durch den Raum zu führen. Aber was heißt schon merkwürdig? Das ist nichts Schlimmes. Es heißt ja nur, dass Dinge geschehen, die würdig sind, dass man sie sich merkt. Ich höre dieses Hörbuch immer wieder gern. Es ist genau das Richtige für einen Herbst- oder Winterabend aber auch für die Zeit an einem Nachmittag im Liegestuhl.

Auf dem Cover des Hörbuchs steht, dass der Autor diese Geschichte gefunden hat, als er in einer Bibliothek auf der Suche nach einem Roman war, der so ist wie das Leben. Und ich bin der Meinung, dass es stimmt. Es ist ein Roman, der wirklich so ist wie das Leben, obwohl sie als Hörbuch nur 98 min. beansprucht.
DIE GESTALTUNG DES HÖRBUCHS

Dazu, dass ich dieses Hörbuch so liebe trägt auch die akustische Gestaltung bei. Friedrich Schoenfelder hat es gelesen, als er schon über 80 Jahre alt war. Die Lesung dieses erfahrenen Schauspielers und Sprechers ist hervorragend, einfach und klar. Diese unaufdringliche und vollkommen angemessene Vortragsweise strahlt so viel Lebendigkeit aus, dass die Lebensweisheit, die im Text enthalten ist, noch vielfach verstärkt wird. Umrahmt wird die wunderbare Lesung von Ozean- und Pianoklängen, die zu diesem Hörbuch sehr gut passen.

Eigentlich gehöre ich ja zu diesen Menschen, die bei Lesungen musikalische Untermalung in den meisten Fällen nicht mögen. Aber hier ist die klangliche Begleitung wirklich passend gestaltet.

DATEN ZUM BUCH

Buchformat: Hörbuch mit 2 CDs
Verlag: Steinbach sprechende Bücher
Autor: Alessandro Baricco
Sprache deutsch
Lesung: Friedrich Schoenfelder
Spieldauer: 98 min.

Liebe Grüße
Paula Grimm

P. S.: Das kurze lebenskluge Buch lohnt sich auch für Leser*innen, die Bücher gern mit den Augen lesen.

Hildes Todesfall (Frauengeschichten sieben Sachen)

Auch die zweite Geschichte in der Kategorie Frauengeschichten in den sieben Sachen handelt von einem Todesfall, aber auch von Freundschaft.

Ursprünglich wurde diese Geschichte für die Schreibgruppe der evangelischen Blindenseelsorge im Rheinland im November 2003 verfasst.

HILDES TODESFALL

„Die Hilde ist plötzlich aufgestanden und auf eine junge Frau zugegangen. Die stand mit Freunden ziemlich nah bei den U-Bahngleisen. Die jungen Leute stritten darüber, was sie mit dem Freitagabend anfangen sollten. Die Hilde hat die junge Frau gegrüßt. Jedenfalls nehme ich das an. Verstehen konnte ich nichts. Sie machten gerade wieder eine Durchsage. – Doch, die Hilde hat sie gegrüßt, schüchtern, wie wir das machen, wenn wir Leute treffen, die wir von früher kennen. Die junge Frau hat auch etwas gesagt. Und eine Bewegung mit dem Arm hat sie gemacht. Die Hilde wankte, fiel ins Nichts, während die Linie 12 einfuhr. Und plötzlich fielen die Geräusche ineinander, wurden zu einem einzigen mächtigen Geräusch. Da macht man die Augen zu oder guckt weg, weil das Geräusch mit einem Mal so mächtig, übermächtig, ist, dass man erst mal mehr als genug hat.“

„Fiel ins Nichts, so ein Quatsch! Halt dein versoffenes Maul Alte!“ Inge antwortete nicht auf die Beschimpfung des jungen Mannes. Er war wie die anderen jungen Leute instinktiv zurückgewichen und stand jetzt unmittelbar neben Inge, die immer noch auf der Bank saß, auf der sie bis vor wenigen Sekunden, bis vor einer halben Ewigkeit, mit Hilde gesessen hatte.

Sie sah nicht zu den Gleisen hinüber. Sie wusste, dass es dort nichts zu sehen gab, was sie verstehen konnte. Sie betrachtete die jungen Leute. Der junge Mann, der sie beschimpft hatte, war seiner Haltung nach der unumstrittene Anführer. „Also hat der bloß eine dicke Lippe riskiert, weil die Anderen es von ihm erwartet haben, vorsichtshalber sozusagen!“ dachte Inge. Es war das typische Cliquenverhalten. Aber waren sie nicht alle doch schon ein bisschen zu alt für eine typische Clique? Hilde wusste aber, dass man sich immer so leicht verschätzte, weil die Meisten immer anders wirkten und sein wollten, als sie waren. Alle waren sorgfältig zurecht gemacht. Inge konnte sich nicht daran erinnern, jemals so aufgetakelt gewesen zu sein, obwohl sie auch bessere Zeiten erlebt hatte als diese, wesentlich bessere Zeiten. Dieser junge Mann und seine Freunde mussten nicht wissen, warum Inge mit sich selbst geredet hatte. Sie wollte doch nur begreifen, was passiert war, und was vorging. Für den Anfang musste dazu wohl eine einfache logische Kette genügen. „Fremde Leute beschimpfen, aber die ganze Zeit nur auf die Armbanduhr starren. – Dich meinen und dich doch nicht meinen, so ein feiger Hund!“

Leute von der Feuerwehr, dem technischen Hilfswerk und der Polizei trafen ein. „Guten Abend! Die Station muss geräumt werden, wenn Sie bitte so freundlich wären, uns n oben zu begleiten, damit wir Ihre Personalien aufnehmen können, und Sie uns freundlicherweise erklären können, was Sie gesehen haben!“, sagte eine junge Polizeibeamtin zu ihnen. Und Inge rappelte sich auf. Gerade das Aufstehen war für Inge seit einiger Zeit doch sehr beschwerlich. Aber einmal in Gang gekommen, wurde es zumindest etwas leichter. „Warum sollen wir mitkommen? Wir haben mit dieser, äh, Sache nichts zu tun!“ beschwerte sich der Anführer stellvertretend für alle Cliquenmitglieder. Die Beamtin würdigte er zwar eines Blickes, war aber ansonsten nicht freundlicher als zu Inge. „Wir wollen nur Ihre Zeugenaussagen aufnehmen!“ erklärte die Polizistin ruhig. Und die jungen Leute folgten den Beamten, wenn auch widerwillig zur Rolltreppe, die ins Zwischengeschoss der U-Bahnstation fuhr.

Inge bildete das Schlusslicht.

Als sich Inge auf die Rolltreppe stellte, musste sie an etwas denken, dass Hilde gesagt hatte: „Es ist ganz egal, wann man mit der Rolltreppe fährt, die Luft, die von der Klimaanlage hier ‚runtergeschubst wird, beißt immer. Ob sie warm oder kalt, feucht oder trocken ist, sie beißt, weil sie einfach nicht nach unten will.“ Und Hilde und Inge waren die Letzten, die ihr das verübelten, obwohl oder gerade, weil sie selbst, sich die meiste Zeit, fast freiwillig, unten aufhielten. In das Mittelgeschoss trauten sie sich häufiger. Denn dort gab es mehrere Imbissbuden und Bäckereien. Manchmal war Hilde aber auch allein auf Beutezug gegangen. Denn sie hatte ein sehr gutes Auge für Leute, die etwas übrig ließen. Und sie konnte unauffällig und geduldig wie eine Katze, die auf Beute lauert, warten, bis etwas für sie abfiel.Nach oben, auf den Markt, gingen sie nur, wenn sie unten vertrieben wurden, was inzwischen nicht mehr ganz so häufig vorkam, wie noch vor ein paar Monaten. Oben hatten andere ihr Revier. Und deshalb ging Inge auch an diesem Abend nur zögernd auf die Rolltreppe, die ganz nach oben führte. – Ganz nach oben?

Auf dem Markt angekommen, führten die Beamten die Gruppe zu einem Polizeiwagen. Inge blieb etwas abseits stehen und wartete darauf, von den Polizisten irgendwann befragt zu werden. Sie stand im Licht einer Straßenlaterne. Die Lampe spendete ein orangefarbenes Licht. Es regnete. Inge war froh darüber, nicht unter einer Laterne mit weißgrünlichem Licht zu stehen. In diesem Licht hätte sie wie eine Wasserleiche ausgesehen. Inge erinnerte sich plötzlich daran, wie es gewesen war, als sie noch eine eigene Wohnung in einem Mietshaus gehabt hatte, und wie es ausgesehen hatte, aus einem höheren Stockwerk bei Regenwetter auf diese orangefarbenen Lampen zu sehen. Von da oben hatte es ausgesehen, als wäre es kein Regen, sondern fließendes Gold, was sich auf die Straße ergoss. „So weit nach oben, dass ich das noch mal sehen kann,komme ich wohl nicht mehr. Und so allein, ohne die Hilde, bin ich inzwischen auch ein zu großer Angsthase, um so weit oben und so normal zu sein. Aber war die Hilde überhaupt jemals so weit oben gewesen, um nachts von oben auf die Orangefarbenen Laternen und den Regen gucken zu können?“

Wahrscheinlich hatte Hilde diesen Anblick nicht gekannt. Denn Hilde kam ursprünglich aus dem Umland der Großstadt, wo alles kleiner und weniger glanzvoll gewesen war. Diese eher ländliche Umgebung hatte Hilde gefallen. Sie hatte häufiger davon gesprochen, zum Beispiel von den Gärten. Aber von der Familie, die sie gehabt hatte, und die zerbrochen war, hatte sie dagegen kaum etwas erzählt. Hilde hatte einen Mann gehabt und zwei Kinder. Die Kinder waren inzwischen erwachsen. Die beiden hießen Niels und Nina und kamen, wie Hilde gemeint hatte, Gott sei Dank auf ihren Vater. „Hilde, erinnerst du dich noch an das Gespräch von den beiden jungen Frauen, die auf die Vier warteten und sich gefragt haben,warum man so oft nicht zu anderen Menschen durchkommt, warum man so oft nicht verstanden wird. Und wie die Eine zu der Anderen sagte dass jeder Mensch eben eine eigene, ganz andere Welt ist. Und dann kam ihre Bahn und du hast gesagt: „Wenn das stimmt, dann ist jeder hier unten eine eigene, ganz andere Unterwelt.“ Und recht hast du gehabt. Und weil das stimmt, musstest du weder mir, noch sonst jemandem alles von deiner buckligen Verwandtschaft erzählen.“

Es dauerte seine Zeit, bis die Beamten, die sich von der Ungeduld der jungen Leute nicht aus der Ruhe bringen ließen, die Personalien und Zeugenaussagen aufgenommen hatten. Die jungen Leute bekamen Termine, zu denen sie sich auf dem Präsidium melden sollten. Und als das vorbei war, standen sie plötzlich alle da, scharrten mit den Füßen, sahen sich in der Gegend um blickten auf ihre Uhren, beschäftigten sich mit dem Inhalt ihrer Taschen oder mit ihrer Aufmachung und konnten auf die Schnelle, an die sie normalerweise gut gewöhnt waren, ihre Unternehmungslust nicht wieder finden.

Die junge Beamtin kam mit ihrem Kollegen auf Inge zu. Und Inge kam das Gesicht der jungen Frau immer bekannter vor. Schließlich mussten sich die Beamten im Bereich der U-Bahnstation gut auskennen, denn hier gab es für sie häufiger etwas zu tun. So kannten sie auch Hilde und Inge, zumindest den Namen nach, und deshalb war Inge keineswegs verwundert, dass die Beamtin zu ihr sagte: „Guten Abend, Inge!“ „Guten Abend! Wissen sie vielleicht, ob die Hilde noch lebt?“ „Die Leute vom technischen Hilfswerk und der Feuerwehr sind noch da unten beschäftigt, aber sie wissen schon, dass die Hilde tot ist. Du hast sie doch gut gekannt, die Hilde!“ „Lieber Gott mach‘, dass die Hilde jetzt so weit unten ist, dass sie nicht noch weiter nach unten fallen muss. Und sei ihrer Seele gnädig!“ Später konnte Inge beim besten Willen nicht mehr sagen, ob sie das Gebet vor sich hingesprochen hatte oder nicht. Aber sie kam damit immerhin dazu, sich so weit zu sammeln, um mit der Beamtin weiter sprechen zu können. „Ja, wir waren seit einem Jahr befreundet. und so lange kannte ich sie auch, na, jedenfalls so ungefähr. Ich weiß aber nicht, wie die Hilde weiter hieß. Bei uns verliert man den Nachnamen zuerst. Ich weiß nur, weil sie das irgendwann wahrscheinlich ausversehen gesagt hat, dass sie nicht so hieß wie der Mann, den sie mal gehabt hat.“ „Und was ist eben passiert?“

„Die Hilde ist plötzlich aufgestanden und auf eine junge Frau zugegangen. Die stand mit Freunden ziemlich nah bei den U-Bahngleisen. Die jungen Leute stritten darüber, was sie mit diesem Freitagabend anfangen sollten. Die Hilde hat die junge Frau gegrüßt. Jedenfalls nehme ich das an. Verstehen konnte ich nichts. Sie machten gerade wieder eine Durchsage. – Doch die Hilde hat sie gegrüßt, schüchtern, wie wir das machen, wenn wir Leute treffen, die wir von früher kennen. Die junge Frau hat auch etwas gesagt. Und eine Bewegung mit dem Arm hat sie gemacht. Die Hilde wankte, fiel ins Nichts, während die Linie 12 einfuhr.“

„Hat die junge Frau sie gestoßen? Ist sie verantwortlich für den Sturz?“ Die Fragen waren naheliegend und berechtigt. Das spürte Inge sofort. Aber das half nicht bei der Beantwortung der fragen. Schließlich fand Inge in ihrem Wortschatz Begriffe für Antworten, Die zumindest einigermaßen taugten. „Ein Gericht wird in dieser Sache nichts finden können, um herauszufinden, wer oder was Schuld ist, nehme ich an. Aber Schuld gibt es wohl schon, alte Schuld, Ungerechtigkeit, die neu geworden ist, durch die Verleumdung und die Abweisung, die Hilde erfahren hat. Die beiden hätten auch viel weiter voneinander weg stehen können. Verleumdung und Abweisung machten den Arm lang genug für eine Berührung, die die Hilde einfach ins Wanken bringen musste, zu Fall bringen musste. Die Hilde war überhaupt nicht unberührbar, im Gegenteil.“ Inge behielt diese Worte genau im Gedächtnis und wunderte sich später darüber, so etwas gesagt zu haben. Sie traute ihren Ohren nicht, als sie sich die Zeit nahm, das Gesagte vor sich zu wiederholen. andererseits konnte sie nichts Falsches darin finden.

„Du sagtest, dass du den Eindruck gehabt hättest, dass sie einander kannten.“ „Ich bin mir sicher, dass sie sich kannten.“ Und ich werde es Ihnen beweisen.“ Langsam, so schnell wie es ihr möglich war, drehte sich Inge um. „Du kannst nicht einfach auf sie zeigen. Man zeigt nicht mit nacktem Finger auf angezogene Leute!“ dachte Inge. Außerdem konnte sie das Gefühl nicht abschütteln, dass ihr Arm viel zu kurz war für eine so weite Geste, selbst wenn sie sie für die Beamten mit einigen Worten angeschoben oder verstärkt hätte. Also ging Inge mit ihren kleinen, unsicheren Schritten auf die junge Frau zu. Einen Augenblick lang sah sie ihr unschlüssig ins Gesicht. Sie überlegte, ob sie ihr die Hand geben sollte. Aber sie war zu schüchtern für diese Handgreiflichkeit, wagte es nicht einmal, die Hand leicht auszustrecken. Doch sie brachte wenigstens den Mut auf, sie direkt anzusprechen und ihrem Blick standzuhalten. „Guten Abend, Nina! Herzliches Beileid zum Tod ihrer Mutter!“

Die junge Frau reagierte nicht. Doch das war Reaktion und Antwort genug.

© Paula Grimm, 18. Feb 2023

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud (Frauengeschichten aus sieben Sachen)

Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud

Der Sommer setzte die Lebenden nicht mit flirrender Hitze unter Druck. Der Himmel hielt sich bedeckt. Es regnete nicht. Sanft wehte der Wind.

„Guten Tag, Daggi!“ „Herzliches Beileid auch dir,
daggi!“ „Wie geht es dir sonst so, Daggi?“ „Hallo, bald hätte ich dich übersehen, Daggi!“

Und Daggi, wie es aus aller Munde kam, hatte wie eh und je diesen falschen, verniedlichenden Klang. Es waren viele Leute zu begrüßen, Beileidsbekundungen entgegenzunehmen und vor allem Hände zu schütteln. Da das seine Zeit brauchte und sehr eintönig vor sich ging, gelang es den ganz alten Erinnerungen wie den Gerüchen von Haferschleim, den die Großmutter früher jeden Morgen für den Vater gekocht hatte, und dem Zitrusspülmittel aus der Vergangenheit und den Tiefen des Gedächtnisses aufzutauchen und so stark zu werden, dass sie die aktuellen In-Düfte der Parfüms, Deos und Aftershaves überlagerten und diese nach einiger Zeit sogar ganz zu verdrängen. Und plötzlich war auch wieder die Stimme der Großmutter zu hören, die wie zu ihren Lebzeiten in jenem Singsangdialekt von weiter rheinaufwärts sprach: „Jib dat schöne Händische, Daggi!“ Und wie eh und je klang sie dabei jammernd und schimpfend zugleich. Dieser und ähnliche Sätze in diesem Zungenschlag waren seit dreißig Jahren hier und in ihrer Familie verstummt. Doch da sie in früheren Zeiten so oft erklungen waren, mussten sie einfach ohne Sinn und Verstand in der Familie bleiben, bis der oder die Letzte, dem sie zu Lebzeiten zu Ohren gekommen waren, gestorben sein würde. Aber so oft die die Hinterbliebenen von der alten Frau Befehle erteilt worden waren, so oft sie geklagt, verurteilt und geprahlt hatte, Konnte oder wollte jemand aus der Familie diese jammernde Schimpferei imitieren.

Jeder bekam von Dagmar die rechte Hand und natürlich auch einen Gruß und einen Dank in der hiesigen leicht rauen Sprachweise. Ihre Rechte war wie die Linke und wie die Füße klein geraten und die Rechte war wieder einmal durch Macken an den Nagelbetten und einen Riss an der Daumenwurzel nicht das schöne Händchen.
„Wenigstens muss erst mal nicht gewinkt werden. Dabei verpasse ich wahrscheinlich immer noch den Einsatz, weil ein Abschiedswort noch lange kein Abschiedsblick und keine Kehrtwende zum Gehen ist, Blinde Kuh!“, dachte Dagmar.

„Es geht los, Daggi!“, sagte Martha, die Älteste von den fünf Kindern, die Gertrud geboren hatte. „Also bei ihr einhaken!“, gedacht, nichts gesagt und einfach getan, was jetzt angesagt war.

Der Weg zu dem Teil des Friedhofs, wo die anonymen Gräber waren, war, wie man so sagt, ein gutes Stück Weg. „Und gehen hilft immer irgendwie!“, bemerkte Dagmar still, während sich Martha auf dem Weg zum Grab gedämpft mit Leuten unterhielt, die vor und hinter ihnen gingen. Und deshalb musste sie auf dem Weg nicht Daggi zu ihr sagen. So war es leicht, den eigenen Gedanken nachzugehen. – „Gehen hilft immer irgendwie! – Gertrud war wie Martha die Älteste zuhause. – Zuhause in Ostpreußen, zuhause an der Bahnstrecke, wo dann irgendwann abends und nachts nicht mehr nur Güterzüge und Viehtransporte nach Osten rollten. – Zuhause, wo dann irgendwann auf den Güter- und Viehwagons Menschen nach Osten abgeschoben wurden. Und die Dunkelheit, durch die die Züge mit den Menschen in den Wagons gefahren waren, verhüllte die Tötungsabsichten und die Morde nicht, sodass Gertrud sie später genau erkannte. – Zuhause, wo dann später mit Menschen überladene Züge nach Westen fuhren. – Zuhause, von wo sich Gertrud ohne den Vater mit den Großeltern, der Mutter und den jüngeren Geschwistern zu Fuß in den ungewissen Westen hatte aufmachen müssen. Und die beiden Kleinen, Oskar und Renate waren auf der Strecke geblieben. – Gertrud war die Einzige gewesen, die nicht Daggi, sondern Dagmar zu gesagt hatte. – Voller Stolz, weil sie sich im diesem Fall einmal gegen ihren Mann und ihre Schwiegermutter durchgesetzt hatte. Anders als es bei den Namen der vier Geschwister gewesen war. So hieß Martha wie eine Jugendfreundin des Vaters. Martha empfand es als Zurückweisung so zu heißen wie jemand, die im Alter von zweiundzwanzig Jahren tödlich mit dem Auto verunglückt war. Und Martha empfand es mit Mitte vierzig immer noch unpassend, ja sogar unverschämt, dass Dagmar, Dagmar also taghell, hieß. Sie sagte immer wieder: „Es ist absurd, jemanden taghell zu nennen, die im dunkelsten Winter geboren ist, und die nie gesehen hat und nie sehen wird, was taghell ist.“
„Und selbst, wenn das stimmt, gibt es doch keinen triftigen Grund dafür der Namensgeberin und auch der Trägerin dieses Namens den Klang des Namens wegzunehmen und lebenslänglich mit diesem falschen und verniedlichenden Ton Daggi zu sagen!“, dachte Dagmar dann jedes Mal.

Schließlich erreichten sie den Platz, an dem Gertruds Urne beigesetzt werden sollte. Der Mandatar wartete bis alle Trauergäste sich in einem großen Halbkreis um das offene Urnengrab versammelt hatten. Dabei ließ sich ein Augenblick der Stille und des Stillstands nicht vermeiden. Und wenn Dagmar geistesgegenwärtig genug gewesen wäre und mit dem schönen Händchen, mit dem Linken, das von Herzen kommt, in die Luft gegriffen hätte, hätte sie wohl ein großes stück von dem nur scheinbar so kleinen Glück aufgeschnappt, dass die Natur einfachen, bodenständigen Leuten wie Gertrud schenkt, Leuten, die das Herz am rechten Fleck haben. So blieb Dagmar nur die Zeit festzustellen, dass Gertrud ihren Platz für die ewige Ruhe richtig gewählt hatte. Es war ein Ort mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte Orte in ihrem garten so geschaffen wie dieser Platz, an dem sie bestattet werden würde, waren, Orte mit Gras, Blumen und Bäumen. Gertrud hatte es verstanden. Wer nicht einfach heimisch sein darf, wo er ist, der muss sich heimisch machen. Aber, wer solche Plätze schafft, schafft keine vollkommen heile Welt. Dazu sind diese Plätze zu bescheiden und zu leicht zu zerstören. Und um Orte zu schaffen, an denen man sich wenigstens heimisch fühlt, muss man zu oft, zu viel und zu hart arbeiten, als dass ein Stückchen heile Welt entstehen könnte.

Der Trauerredner hielt eine kurze Ansprache. Und dann folgte zumindest das Vaterunser. Das Vaterunser war auch an diesem Platz und an diesem Ort gut und einfach, wie es immer ist und wie das Gehen. Es hilft immer. In seiner Einfachheit, Klarheit und Ungereimtheit war es Gertruds Leben und damit jetzt auch ihrem Tod näher und angemessener als jedes Lied. Denn die Worte dieses Gebets sind so gesetzt, dass man sie wie bei jedem Gang rhythmisch so gestalten kann, wie es gerade angemessen ist. Auf die Länge und die rituelle Struktur einer katholischen Messe war verzichtet worden, auch um falsche Gefühligkeit von Vornherein auszuschließen. Was mit falscher Gefühligkeit auch immer gemeint sein mochte. Und es stimmte, Gertrud war keine Kirchgängerin gewesen. Sie war in den Garten gegangen so lange sie konnte. Und ihren Garten hatte sie mit Kopf, Herz und Hand gepflegt und war damit bodenständig genug, um Herz und Seele nach oben und ganz weit offen zu haben. Und damit gehörte sie in einem ganz und gar umkonfessionellen zu den gläubigen Menschen. und sie hatte gebetet.

Und was konnte auf dieses einfache und dennoch großartige Gebet folgen? Jeder Trauergast ging zum Urnengrab. In den letzten Tagen war viel und laut über die Gertruds Beerdigung gesprochen worden. Und weil alle sich bemüht hatten, so schnell und so laut als möglich mitzureden, waren viele falsche Worte gemacht worden. Und sie alle hingen jetzt plötzlich nach dem Vaterunser in der Sommerluft. Und die Tränen, die Dagmar jetzt vergoss, konnten sie nicht wegspülen.

Jeder ging allein an das Grab, auch wenn sie zu zweit an das Erdloch traten wie Martha und Dagmar. Dagmar stand da und dieses Loch in der Erde fühlte sich an wie eine Wunde.

Plötzlich wurde Dagmar gewahr, dass neben ihr ein Korb mit Blütenblättern stand. Und links neben diesem Korb, also an der Herzseite war das Urnengrab. Auf die Blütenblätter und dieses Loch war Dagmar nicht vorbereitet gewesen. Denn darüber war in der Zeit nach Gertruds Tot kein einziges Wort gesprochen worden.

Dagmar erinnerte sich daran, wie sie vor fast dreißig Jahren auf diesem Friedhof aber an ganz anderer Stelle für die Großmutter väterlicherseits einen Kranz in ein größeres Grab geworfen hatte.

Und Gertrud hatte sich ihr anonymes Urnengrab auch deshalb gewünscht, um nicht neben ihrer Schwiegermutter in das Doppelgrab gelegt zu werden, dass ihr Mann gekauft hatte. Es war wohl dieser erfolgreiche Widerstand gegen den Willen der alten Frau und ihren Sohn gewesen, der vor nicht einmal einer halben Stunde mitverantwortlich dafür gewesen war, dass die Worte der Großmutter und der Gerüche von früher auf den Plan gerufen worden waren. Was waren schon ungefähr dreißig Jahre und ungefähr 200 M Luftlinie im Vergleich zu ausgewachsenem Starrsinn und einer riesigen Portion Bosheit?

„Was ist jetzt zu tun? – Hier geht es nicht um das schöne Händchen. – Wie viele Blütenblätter müssen es sein? – Achtundachtzig!“, dachte Dagmar. „Mensch Daggi, was machst du denn da? Du hältst den ganzen Verkehr auf!“, zischte Martha ungeduldig. Martha war oft ungeduldig aber so ungeduldig?

Nicht „Nicht die Sonne bringt es an den Tag sondern die Weite!“, dachte Dagmar. „ich zähle doch nur die angemessene Zahl der Blütenblätter für Gertrud ab!“ „Die angemessene Zahl für Gertrud?“ „Ja, für Gertrud, di mit dem Schwert Vertraute. So hieß sie doch!“ „Aber, warum sagst du Gertrud zu ihr, Daggi?“ Sie war unsere Mutter!“ „Ja! Das war sie auch! Aber das war sie nicht nur!“ „Wie viele von den Blütenblättern meinst du denn zu brauchen?“ „Die fünfundsiebzig für gelebte und erlebte Jahre habe ich schon! Also sind die Zeit der vielen Arbeit, die Zeiten des Kummers, die Zeiten der Sehnsüchte, Die Zeit der Vertreibung, die Zeiten der Krankheiten, die Zeiten der Schwangerschaften und Geburten, die Zeit der Pflege und so schon bedacht!“ „Und was kommt jetzt noch?“

Diese spitze Frage nahm Dagmar erst abends, als sie in ihrem Bett lag, ganz deutlich wahr. Was sie am Urnengrab aber in Echtzeit spürte, war Marthas immer noch wachsende Ungeduld. Sie hätte Dagmar gern stehen gelassen. Aber das traute sie sich nicht. Wenn sich Martha wenigstens mit den anderen Trauergästen hätte verbünden können. Aber die warteten geduldig in gebührendem abstand, nicht nur, weil sie Dagmars Tränen sahen. Zumindest die meisten spürten wohl auch, dass alles seinen angemessenen Gang für Gertrud und Dagmar ging. Und alles ging so gut wie möglich.

„Fünfundsiebzig für jedes gelebte und erlebte Jahr, eins als Trostpflaster für jeden Kummer, eins zum Trost für unerfüllte Sehnsüchte, eins für unerfüllte Liebe, eins für jede erlittene Ungerechtigkeit, eins als Lohn für jede Plackerei, eins für jede vergebliche Mühe, eins für jeden erlittenen Schmerz und für jede Krankheit. Und der Dank darf nicht fehlen, eins für jedes gute Wort, eins für die Zuverlässigkeit, eins für jede geübte Nachsicht, eins für die Liebe, die immer von Herzen kam, auch wenn sie immer nur eine praktische Gestalt angenommen hatte, eins für die Mühe um Gerechtigkeit und eins für die Bemühung um Verständnis, was oft nicht gelang was aber zu deinen Lebzeiten nie aufhörte.“

© Paula Grimm, 09. November 2023

Sieben Sachen im Zeichen des Regenbogens

Guten Tag und herzlich willkommen bei den sieben Sachen von Paula Grimm,

in den nächsten Tagen lade ich sieben kurze Prosatexte in diesen Blog. Die Sieben sind die ältesten Sachen, die ich geschrieben habe, die nicht dem Reißwolf oder der Löschung anheim gefallen sind, nachdem ich nach über drei Jahrzehnten des Schreibens beschlossen hatte, das Schreiben „errnsthaft zu betreiben“.

Es sind sieben Sachen, die durch sieben unterschiedliche Impulse entstanden sind.

Die Sieben ist für mich keine „böse“ Zahl, obwohl es die sieben Totsünden und die sieben mageren Jahre gibt. Denn andererseits gibt es in der Bibel auch die sieben fetten Jahre. Und für viele ist die Sieben die Zahl der Fülle.

Zudem sind da ja auch noch die sieben Farben des Regenbogens. Und die habe ich, obwohl von mir persönlich ungesehen, zum Leitbild der Geschichtensammlung, sieben Sachen, gemacht.

Die Zeichnung des Regenbogens, die das Cover für die Geschichten ist, stammt übrigens von Mira Alexander. Ich sag ihr an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank dafür.

Obwohl jeder Text seinen eigenen Schreibanlass hat, gibt es drei Hauptkategorien, in die sie gegliedert sind.

1. Frauengeschichten (Achtundachtzig Blütenblätter für Gertrud und Hildes Todesfall)
2. Skuriles (Cucurbitus Rex und schmackhafte Vorsätze)
3. Tierisches (Hundstag, Negritas Brief und Elsa und Mimmi)

Hier im Blog werde ich die Geschichten thematisch geordnet einstellen, und zwar beginnend mit den beiden Frauengeschichten. Dnach folgen die skurilen Sachen. Das Schlusslicht bilden die tierischen Texte.

Vorsicht! – Auch in einigen Texten dieser Sammlung darf ein Schuss Magie nicht fehlen. So geht es eben zu bei der Paula.

Ich wünsche Euch viel Vergnügen und gute Unterhaltung mit den Sieben Sachen und freue mich auf Fragen und Kritik von Euch!

Liebe Grüße

Paula Grimm

Übertötung statt Overkill

Guten Tag,

von ihr, Gesken Paulsen, werdet Ihr in den nächsten Jahren viel Lesen und hören. Über ihr Leben wird es kurze Geschichten, Erzählungen und Kurzgeschichten geben. Seit 2022 begleiten mich ihre Lebensgeschichten.

Es gab da einen Fall, den ich mir sehr genau vorgestellt hatte. Aber mir fiel auf, dass dieser Fall verbunden mit einer interessanten Lebensgeschichte für mich nicht zu schreiben war, ohne dass gesken ihre eigene Geschichte bekommt.

Derzeit arbeite ich an dem Roman über die Geschichte von Geskens Kindheit. Aber hier kommt eine Episode, die zunächst in einer Anthologie, farbenfrohe Dunkelheit, erschien.

Bei den BLAutoren bin ich nicht mehr aktiv. Und die Kurzgeschichte wurde leicht überarbeitet.

In diesem Text geht es darum, wie sich das Leben mit einer erlebten Katastrophe verändern kann, wenn sich der Mensch einen neuen, in gewisser Weise, eigenen Begriff von dem erlebten Unheil machen kann.
Übertötung statt Overkill

Am Abend des 07. Juli 1969 sitzt Gesken auf ihrem Bett. Ihr Zimmer ist ein schmaler Raum. In ihm stehen nur das Bett und ein Regal mit ihren Sachen. Er hat keine Tür.
Gesken kann in die Küche sehen. Die Küchentür ist offen. Ihre Mutter sitzt mit einer Illustrierten am Küchentisch. Der Geruch ihres schweren, süßen Parfums dringt Gesken in die Nase.

Gesken hört den Wagen ihres Vaters auf den Hof fahren. Der Vater stellt den Motor ab, bleibt aber wie immer noch kurze Zeit im Auto sitzen. Die Autotür wird zugeschlagen, die Schritte des Vaters kommen auf das Haus zu. Er öffnet die Haustür und geht in die Küche. Sein Geruch nach kaltem Rauch und Rasierwasser steigt ihr in die Nase.

Er wirft das Feuerzeug und die Schachtel mit den Zigarillos auf den Tisch. Er will erst einmal in Ruhe rauchen.

„Dass du es nur weißt, ich verlasse dich und den ganzen Scheiß hier!“
Diesen Satz hat die Mutter schon sehr oft gesagt. Aber bisher ist der Satz nie allein gewesen, ist immer in einem der vielen Wortgefechte gesagt worden, die die Eltern sich täglich geliefert haben. Auch der Tonfall ist anders als sonst. Der Satz stellt sich klar und deutlich zwischen ihre Eltern.

Der Vater merkt die Veränderung auch und hält inne. Er hat Gesken den Rücken zugedreht.
„Hast du gehört, was ich gesagt habe?“, keift die Mutter.
Der Vater nickt heftig und fragt:
„Ist da ein anderer Kerl im Spiel?“
Ein kurzes, spitzes Lachen ist die Antwort.

Die Mutter springt auf. Jetzt stehen sich die Eltern Auge in Auge gegenüber. Das lässt plötzlich alle Gefühle, die sie gegeneinander gehegt haben, los. Gleichgültigkeit, Machtgier, Zorn und Geltungssucht wirbeln herum. Ein Sturm, der Gesken erfasst, keinen Platz mehr für ihre Gefühle lässt, sie erstarren lässt aber ihre Wahrnehmungen schärft wie nie zuvor.

Dann beginnt der Vater in der Küche umherzugehen. Er holt Schwung für etwas, das noch nie da gewesen ist.
Gesken hört, wie er an der Anrichte inne hält, sich plötzlich umdreht und auf die Mutter zuspringt.
„Dass du es nur weißt, einen Viktor Eisenbeiß verlässt man nicht!“

Gesken sieht das Messer in seiner Hand aufblitzen, hört den langen Schrei der Mutter und wie sie auf den Boden fällt. Wieder und wieder sticht der Vater auf die Mutter ein. Bald schreit und bewegt sich die Mutter nicht mehr. Gesken sieht das Blut, das Messer, die Hand des Vaters und sein Gesicht.

Seine Bewegungen sind so schnell und heftig, dass sie Gesken und das gesamte Erdgeschoss besetzen. Daher kann sich Gesken nicht mehr bewegen. Mehr noch. Gesken kann gar nicht mehr reagieren. Denn auch der metallisch süßliche Geruch nach Blut, der die anderen Gerüche beherrscht, lähmt Gesken. In der Raserei bleibt das Gesicht des Vaters nicht unbewegt. Es hält mit der Hast des übrigen Körpers Schritt. Schnell leuchten Zorn, gekränkte Eitelkeit über die Zurückweisungen seiner Frau, Bosheit und Zerstörungswut in seinem Gesicht auf.
So heftig und hastig diese Gefühle in seinem Gesicht auftauchen und wieder verschwinden, ist da in der ganzen Zeit auch etwas, das gleich bleibt. Es ist wie ein dünnes Netz vor seinem Gesicht, das vor Genugtuung und Selbstzufriedenheit glänzt.
So plötzlich die Raserei angefangen hat, so plötzlich ist sie wieder vorbei. Dann ist das Gesicht des Vaters ganz leer. Das Messer fällt klirrend zu Boden. Aber er selbst fällt nicht um.

Er steht lange da. Sein Ausdruck wird ganz ruhig. Er bückt sich nach dem Messer, nimmt es an sich, grinst und geht an der Leiche der Mutter vorbei, die Treppe in den ersten Stock hinauf.

Gesken hört, dass er sich duscht, einige Sachen packt.
Er kommt mit einem Koffer in der Hand wieder herunter, nimmt die Schlüssel, geht hinaus. Kurze Zeit später hört Gesken den Vater wegfahren.

Es dauert, bis sie sich wieder bewegen kann, begreift, dass da niemand mehr ist, der sie zerstören kann.

Plötzlich war da die andere Stille, eine Stille, wie sie in Sälen herrschen kann. Doch es war nicht ganz genau die Ruhe, die Pr. Sidney Frederick von seinen kriminologischen Vorträgen kannte, und die er gern selbst erzeugte. Dazu stellte er immer eine Frage, und zwar so, dass niemand in seinem Publikum vor Spannung oder eingeschüchtert zu antworten wagte.

Dass die Stille den Experten des FBI aus dem weißgestrichenen Haus in Jensum und vom 07. Juli 1969 wieder in den Hörsaal und zum 08. Juli 1987 zurückführte, dauerte seine Zeit. Endlich war Pr. Frederick im Stande auf die aufgeschlagene Seite des Notizbuchs zu blicken, das vor ihm lag.
Oben stand: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.
Darunter las er in seiner eigenen Handschrift: „Gesken Paulsen, vorgeschädigt durch Kindheitstrauma, Vorgeschädigte sind die Schlimmsten, schlimmer als ehrgeizige Emanzen oder die mit schlechtem sozialem Gewissen, werden brillante Ermittler, wenn sie Ausbildung und die ersten Jahre überstehen. Overkill mit 42 Stichen, drei davon absolut tödlich, Todeszeit zwischen 19:30 und 20:30 Uhr.“

Pr. Frederick riss die beschriebene Seite aus dem Buch, faltete sie und steckte sie in die Brusttasche seines Jacketts. Er stand auf und ging nach vorn zum Pult.

Die junge Frau stand immer noch da. Sie stützte sich auf das Pult und hatte die Augen geschlossen.
Pr. Frederick sah zur Tafel hinüber. Die beiden Fotos klebten immer noch auf der grünen Fläche.
Das eine Bild zeigte einen gut gekleideten jungen Mann. Er hatte blondes Haar und trug eine teure Brille. Über seinem Foto stand: „Viktor Eisenbeiß“.

Das zweite Foto zeigte eine junge Frau in einem sehr weit ausgeschnittenem Sommerkleid. Sie war blondiert wie die Monroe. Das war Imke Eisenbeiß.

Zwischen den beiden Fotos hatte die junge Frau in Bildbreite Platz gelassen. Mit Kreide hatte sie auf die grüne Fläche geschrieben:
„Wenn ik Groot bün, fang ik Möörder.
Gesken Eisenbeiß, 12. Juli 1969.“

Pr. Fredericks Vortrag hatte wie üblich begonnen. Er hatte eine Eingangsfrage gestellt:
„Wer kann anschaulich erklären, was ein Overkill ist?“ Und wie sonst üblich war zunächst beredtes Schweigen die Antwort gewesen. Er hatte, um die Wirkung auf sein Publikum zu verstärken, einen strengen Blick aus seinen stahlblauen Augen von oben nach unten über seine Zuhörer schweifen lassen.

Plötzlich hatte sich sein Blick verfangen. Pr. Frederick hatte zunächst nicht verstanden, warum er seinen Blick nicht von der jungen Frau hatte lösen können.
Sie saß links außen in der ersten Reihe. Was er sofort begriffen hatte, war, dass sie seinem Beuteschema leider nicht entsprach. Für seinen Geschmack war sie mit ihren 1,90 Metern zu groß, mit dem sorgfältig geflochtenen schwarzen Bauernzopf zu dunkel. Und zu dünn war sie auch.

Was sie für ihn zu einem Blickfang gemacht hatte, war, dass er noch nie einen Menschen gesehen hatte, der aufmerksam war wie sie. So ruhig wie sie auf dem Platz gesessen hatte, hatte er den Eindruck gehabt, dass sie ihre Konzentration gleichermaßen nach innen und nach außen gerichtet hatte.

Dann hatte sie einen Stift genommen, etwas in ihr Notizbuch geschrieben und dabei die Lippen bewegt. Plötzlich hatte sie so schnell und heftig die Hand gehoben, dass die Bewegung Pr. Frederick erfasst hatte und er dem Impuls auf sie zu reagieren nicht hatte widerstehen können.
„Ja, bitte?“
„Ich kann anschaulich zeigen, was eine Übertötung ist.“
Ihre Stimme war tief und angenehm.
„Dann kommen Sie her und zeigen es uns.“

Sie hatte sich nach ihrem Rucksack gebückt und eine Mappe herausgenommen, bevor sie aufgestanden und an das Pult getreten war.
„Wie heißen Sie?“
„Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

Sie war an die Tafel gegangen und hatte die Fotos ihrer Eltern mit durchsichtigem Klebeband auf die grüne Fläche geklebt und hatte die Namen darüber geschrieben.
„Da fehlen Sie doch noch.“

Sie hatte genickt und gesagt:
„Fotos gibt’s aus der Zeit nicht.“

Nach kurzem Nachdenken hatte sie dann ihren Schwur oder wie man es nennen sollte, auf die Tafel geschrieben und war zum Pult zurückgekehrt.

Pr. Frederick hatte sich auf ihren Platz gesetzt und gelesen, was auf der aufgeschlagenen Seite ihres Notizblocks gestanden hatte: „Übertötung, Übertötung, Übertötung“.

Als sie sachlich berichtete, was am 07. Juli 1969 vorgefallen war, klärte sich ihr Blick auf, als ob sie sowohl für sich selbst als auch ganz allgemein etwas aufgeklärt hätte, was schon lange der Aufklärung bedurft hatte. Ihr Blick war so klar und leuchtend geworden, dass die Augenzeugen zunächst wie geblendet gewesen waren, bevor sie sich dann hinter ihrem Blick als das Kind gezeigt hatte, das sie im Juli 1969 gewesen war. Ein schreckliches Wunder war dann geschehen. Die Anwesenden hatten miterlebt, was sie als Kind erlebt hatte.

Als Pr. Frederick dann schließlich neben ihr am Pult stand, ließ er einen prüfenden Blick durch den Saal schweifen. Viele Zuhörer waren noch immer leichenblass. Niemand hatte sich von der Stelle bewegt. Es roch nach Erbrochenem.

„Haben Sie jetzt, was Sie wollten? Ist es jetzt für Sie endlich vorbei oder was?“, fragte Pr. Frederick scharf. Gesken schüttelte den Kopf.
„Was machen Sie jetzt?“
Ihre dunkelblauen Augen sahen sich um. Dann antwortete sie: „Ich hole erst mal was zum Putzen.“

Als sie ging, um Putzzeug zu holen, suchte Pr. Frederick den Blickkontakt zu seinem alten Mentor, Prof. Hollmann.
Der alte Mann lächelte verschmitzt und sagte: „Ich habe Ihnen doch gestern beim Abendessen gesagt, dass heute ein guter Tag zum Lernen für Sie sein wird.“
Dann machte er eine Pause und fügte hinzu: „So lebendig und anschaulich werden auch Sie nie wieder eine Übertötung erleben.“

Pr. Frederick verzog das Gesicht und Prof. Hollmann sagte streng: „Beschweren Sie sich bloß nicht. Sie haben, was Sie wollten. Sie wollten doch einmal Live dabei sein und nicht immer erst kommen, wenn es vorbei ist.“
Hatte er sich das wirklich gewünscht? Er war wütend auf sich. Aber dieses von dieser Göre verursachte Gefühl wollte er nicht auf sich sitzen lassen.
„Man sieht sich immer zweimal im Leben. Die Blamage zahle ich dir heim, Gesken Paulsen, geborene Eisenbeiß.“

© Paula Grimm, 24.03.2024

Stella auf Erden

Guten Tag,

der folgende Roman zählt nicht zu meinen Lesefrüchten, sondern stammt aus meiner eigenen Schreibwerkstatt.
Titel: Stella auf Erden
Autorin: Paula Grimm
Veröffentlicht bei Bookrix
Klappentext

Stella wird als Schutzengel in Menschengestalt zum ersten Mal auf die Erde entsandt. Dabei büßt sie wie alle „Frischlinge im Erdeinsatz“ die Fähigkeit, sich zu beflügeln, und ihre Flugerlaubnis ein. Ihr Auftrag lautet, dass Leben von Magdalena Zindler nach einem schweren Unfall zu beschützen, bei der Heilung zu helfen und ihr Leben neu zu ordnen.
Das ist eine vielseitige Aufgabe. So muss sie sich auch um Magdalenas Freunde auf zwei und vier Beinen und um ihre Liebe zu Leo Bass kümmern. Auch Stellas Tarnberuf als esoterische Beraterin ist eine Herausforderung und zwingt Stella sich mit ihren Selbstzweifeln zu befassen, die vorwiegend auf den Erfahrungen mit ihrem früheren Chef und dem Ausbilder für Schutzengel herrühren.
Wird Stella ihre Selbstzweifel überwinden, damit sie alle ihre Aufgaben erfüllen kann? Und wird sie am Ende vielleicht sogar ihre Flugerlaubnis wieder erlangen?

Ebook/ISBN: 978-3-7554-2319-5
Taschenbuch/ISBN: 9789403705316
Link zum Taschenbuch bei Bookmundo

Engel sind schon sehr lange ein Thema für mich. Das Schutzengelgebet, das auch im Roman eine wichtige Rolle spielt und zum Beispiel auch in der Oper Hänsel und Gretel als Lied enthalten ist, ist mir seit frühester Kindheit vertraut.

„Schreib doch mal was Leichteres“,wurde ich nach dem Roman Felicitas aufgefordert. Da dachte ich ziemlich bald an Engel. Bei denen macht alles, was wir uns von ihrem Tun vorstellen, immer einen ganz leichten Eindruck.

So ganz leicht hat es stella dann natürlich doch nicht. Aber einfach könnte ja auch jede(r) oder nicht?

Ich wünsche Euch viel freude mit stellas erstem Einsatz in irdischen Gefilden!

Mein besonderer Dank gilt Mira Alexander für Lay Out und Umschlaggestaltung und den Lieben, die mir beiden anderen Formalia zur Veröffetnlichung geholfen haben.
Liebe Grüße

Paula Grimm
P. S. Über Anmerkungen, Kritiken und Fragen so wie Engelgeschichten von Euch freue ich mich selbstverständlich und über das Teilen auch.